Sorge vor Totalmobilmachung im Dezember: Immer mehr IT-Fachleute verlassen Russland

Sorge vor Totalmobilmachung im Dezember: Immer mehr IT-Fachleute verlassen Russland

Aufgrund der geltenden Teilmobilmachung könnten in naher Zukunft zwei- bis dreimal so viele IT-Spezialisten Russland verlassen wie im Frühjahr dieses Jahres, als der ….. in der Ukraine in vollem Umfang begann. Diese Prognose wurde von Nikolai Komlew, Geschäftsführer des Verbandes der Computer- und Informationstechnologieunternehmen (APKIT), auf einer von dem russischen Medienunternehmen RBK veranstalteten Konferenz geäußert.

Genaue Zahlen müssten noch erhoben werden. Der Leiter der Vereinigung für Informationskultur, Ivan Begtin, ist der Ansicht, dass „wir jetzt von einer Mindestgrenze von   100.000 potenziell ausscheidenden IT-Spezialisten ausgehen sollten“. Zuvor hatte der russische Verband für den elektronischen Handel (RAEC) berichtet, dass etwa 60.000 IT-Spezialisten Russland in der ersten Welle (unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine) und weitere 85.000 im April in der zweiten Welle verlassen haben. Russoft, ein Verband von Softwareunternehmen, hatte im April die Zahl der ausgereisten IT-Spezialisten mit etwa 40.000 beziffert, erklärte jedoch später, dass die tatsächliche Zahl derer, die gegangen sind, etwa 25.000 betrug. Viele Spezialisten seien inzwischen zurück nach Russland gekommen.

Der Wind allerdings hat sich wieder gedreht, denn Experten gehen davon aus, dass die wachsende Zahl der Ausreisewilligen auf die Erkenntnis zurückzuführen ist, dass die am 26. September ausgerufene „Teilmobilmachung“ nicht die letzte Mobilmachung gewesen ist. Russischen Mitarbeitern im öffentlichen Dienst seien bereits vor der bevorstehenden Totalmobilmachung für den ….. in der Ukraine gewarnt worden, schreibt das russische Internetprojekt Republik. Voraussichtlich werde eine neue Phase der Einberufungen noch im Dezember dieses Jahres beginnen. Dies sei kürzlich von zwei sachkundigen Quellen in den städtischen Einrichtungen Jekaterinburgs berichtet. Einem der Gesprächspartner zufolge hätten städtischen Einrichtungen in dieser Woche „gewarnt, dass im Dezember mit einer vollständigen Mobilmachung zu rechnen ist“. Eine andere Quelle berichtet, dass die Leiter der Haushaltsorganisationen in privaten Gesprächen aufgefordert werden, „sich auf Ende November vorzubereiten – dann wird eine groß angelegte Einberufung erwartet“.

Am Tag der Ankündigung der Teilmobilmachung sprach Verteidigungsminister Sergej Schoigu von Plänen, 300.000 Reservisten in die Armee einzuziehen, was 1 Prozent der gesamten Mobilisierungsreserve von 25 Millionen Menschen entspreche. Doch nach Angaben der russischen Zeitungen Nowaja Gazeta Europa und Medusa könnte sich die Zahl der einzuberufenden Personen auf 1 bis 1,2 Millionen belaufen.

Ein weiterer Grund für die steigende Ausreisewelle von Internetarbeitern ist die Unbestimmtheit der Mobilmachungskriterien. Zum Beispiel verlangt das Finanzministerium bei der Erteilung von „Vorbehalten“, dass IT-Spezialisten über eine einschlägige Hochschulausbildung aus einer genehmigten Liste verfügen. Nach Angaben von HeadHunter haben über 60 Prozent der männlichen Entwickler und Programmierer keine derartige Ausbildung.

Am 23. September hatte das Verteidigungsministerium mitgeteilt, dass Beschäftigte von IT- und Telekommunikationsunternehmen, Medien und Banken nicht zur Mobilmachung eingezogen werden (sofern ihr Unternehmen bestimmte Voraussetzungen erfüllt). Das Ministerium stellte aber klar, dass es sich lediglich um eine Aussetzung der Wehrpflicht handele. Trotz aller Erklärungen der Ministerien begannen die Militärämter, Vorladungen an IT-Spezialisten zu verschicken.

Die auf Wirtschaft spezialisierte Nachrichtenseite The Bell berichtete, haben seit Beginn der Mobilmachung etwa 180 Yandex-Mitarbeiter Vorladungen erhalten. Die Anwälte des Unternehmens beraten die Beschäftigten und ihre Angehörigen bei der Mobilmachung, sagte einer von ihnen. Ein anderer Online-Dienst, bei dem mehr als tausend Personen beschäftigt sind, hat bereits 30 Vorladungen erhalten. 40 Mitarbeiter der Tinkoff Bank haben ebenfalls Vorladungen bekommen.

Am 27. September wurde auf der Gosuslugi-Website, eine staatliche Anwendung zum einfachen und schnellen Zugriff auf öffentliche Dienstleistungen, eine Seite eingerichtet, über die Mitarbeiter von IT- und Telekommunikationsunternehmen einen Aufschub der Mobilmachung beantragen können. Seitdem wurden mehr als 1.500 solcher Anträge eingereicht.

Bei der Bearbeitung werden hoffentlich nicht so viele Fehler vorkommen, wie bei denen von den Einberufungsämtern nach der Teilmobilmachung. Es wurden Männer eingezogen, die noch nie gedient haben, schwer krank sind, nur wenige Jahre Militärdienst geleistet haben oder Väter mit vielen Kindern sind. Viele werden in den Krieg geschickt, ohne eine medizinische Untersuchung zu bestehen und ohne die notwendige Ausbildung. Solche Fälle wurden unter anderem aus den Regionen Burjatien, Jakutien, Sachalin, Amur, Swerdlowsk und Rostow gemeldet. Nachdem die Medien über diese Geschichten berichtet haben, wurden die rechtswidrigen Entscheidungen überdacht, aber nicht überall. Selbst russische Propagandisten und Chefs der russischen Regionen sprechen offen über die entstandenen Probleme.

Auch russische Reservisten sind durch das Mobilmachungsgesetz verwirrt. Die Staatsduma und die Regierung vertreten direkt entgegengesetzte Positionen zur Ausreiseerlaubnis der Reservisten. Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin sagte gestern, dass es registrierten Reservisten untersagt sei, das Land ohne die Erlaubnis des Militärregistrierungs- und Einberufungsamts zu verlassen. Das Regierungsportal berichtet jedoch: „Unter den Bedingungen der Teilmobilisierung gibt es keine Bewegungsbeschränkungen für russische Bürger.“

Die Geschehnisse haben viele Russen dazu veranlasst, ihre Wut auf Regierungsgebäude zu richten. Seit Beginn der Mobilisierung wurden in Russland mindestens 20 Rekrutierungsbüros und Verwaltungsgebäude in Brand gesetzt, ein junger Mann in der Region Irkutsk schoss mehrfach auf einen Militärkommissar, und ein Bewohner der Region Rjasan zündete sich an einem Busbahnhof an, weil er nicht zur Armee gehen wollte. Seit dem 21. September gibt es eine Welle spontaner Straßenproteste gegen die Mobilisierung, die von den Strafverfolgungsbehörden rigoros unterdrückt werden. Nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten wurden bisher mehr als zweitausend Menschen bei den Kundgebungen festgenommen. Die größten Proteste fanden in Dagestan, Moskau und St. Petersburg statt.

An den Landgrenzen Russlands hat der Ansturm der Ausreisewilligen zu tagelangen Warteschlangen geführt. Die größten Staus gibt es an den Grenzen zu Georgien, Kasachstan, der Mongolei und Finnland.

Vom Upper Lars, dem Kontrollpunkt zur Einreise nach Georgien, heißt es: „Alle Fahrspuren sind in Betrieb. Alle Personen, die versuchen, die Grenze zu überschreiten, überschreiten die Grenze, wenn sie die erforderlichen Dokumente haben.“ Weiterhin können alle Personen die Grenze mit einem Fahrzeug überqueren: Auto, Fahrrad, Motorroller Mofas und so weiter.

Finnland bestätigte gestern erneut, dass es am 30. September die Grenze für russische Touristen schließen werde und folgt damit der Linie Polens und der baltischen Länder. Russen können jetzt nur noch zum Studium, zur Arbeit, zur medizinischen Behandlung und aus familiären und humanitären Gründen nach Finnland kommen, berichtet Helsingin Sanomat. Russen, die Immobilien in Finnland besitzen, können weiterhin in das Land einreisen, wenn sie nachweisen können, dass ihr Besuch notwendig ist, um ihr Eigentum in gutem Zustand zu erhalten.

An der Grenze zu Kasachstan in der Region Astrachan wird derzeit eine ‚mobile Teilmobilmachungsstation‘ installiert, wo Einberufungen ausgestellt werden können.

Die Dokumente aller Ausreisenden werden mit dem föderalen Register der Mobilmachungspflichtigen abgeglichen. Personen, die die Kriterien für die Wehrpflicht erfüllen und kein Recht auf Aufschub der Teilmobilisierung oder eine Genehmigung der zuständigen Einberufungsbehörde haben, bleibt der Grenzübertritt verwehrt.

Eilig aus Russland abreisende „Touristen“ berichten, dass die Mongolei noch ohne Warteschlangen zugänglich sei. Der Grenzübergang verlaufe schnell und „schmerzlos“. Dorthin fahren regelmäßig Busse, Züge und Flugzeuge. Die Kosten für eine Reise von Ulan-Ude in die Mongolei überschreiten nicht 200 Euro.

Auch Norwegen bereitet den von Finnland eingeführten ähnelnde Beschränkungen vor, und würden damit das letzte „Fenster“ für die Abreise von Russen nach Europa mit Touristenvisa schließen. Es wird nicht schwierig sein, die legale Einreise zu schließen: An der Grenze zwischen Russland und Norwegen gibt es genau einen Grenzkontrollpunkt.

Insgesamt sollen seit dem 21. September mindestens 200.000 Menschen Russland verlassen haben. Eine Minimalschätzung, die auf den Zahlen der Grenzdienste der Nachbarländer basiert, aber ohne Zahlen aus dem beliebten Armenien.

Nach letzten Zählungen reisten in den letzten 10 Tagen Russen in folgende Länder aus: 98.000 nach Kasachstan, 53.000 nach Georgien, 42.349 nach Finnland, jeweils 9837 nach Estland und Litauen, 6500 nach Israel, 3526 nach Kirgisistan, 3000 in die Mongolei, 2326 nach Polen, 1618 nach Lettland und 707 nach Norwegen.

[hrsg/russland.NEWS]

COMMENTS