So missbraucht die «Süddeutsche» das Gedenken an Hunger und Tod

So missbraucht die «Süddeutsche» das Gedenken an Hunger und Tod

[Kommentar von Christian Müller-infosperber.ch] Eine Million Menschen starben an Hunger, weil die deutschen Truppen Leningrad blockierten. Doch jetzt wird Russland beschuldigt.

«Moskau missbraucht das Gedenken an Leningrad». So lautet die Headline eines Kommentars der «Süddeutschen Zeitung» am 24. Januar 2019 zur Aushungerung der Stadt Leningrad – heute St. Petersburg – während 900 Tagen durch die Deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg und zum diesjährigen Gedenktag. Eine Million Menschen starben damals den vielleicht schrecklichsten Tod, den man sich vorstellen kann: den Hungertod. Kinder mussten mitansehen, wie ihre Väter langsam verhungerten, Mütter mussten ansehen, wie ihre Kinder verhungerten. Es gab einfach nichts mehr zu essen, weil die deutschen Truppen die Stadt abgeriegelt hatten und jede Zufuhr von Nahrungsmitteln verhinderten. Es war, nach dem Holocaust, der schlimmste Fall von Genozid im Zweiten Weltkrieg.

Jetzt, Ende Januar 2019, sind es 75 Jahre, seit das hungernde Leningrad von der Roten Armee befreit wurde. Fürwahr ein Anlass zum Gedenken.

Aber was macht eine der bedeutendsten Zeitungen Deutschlands? Statt wiedereinmal in sich zu gehen und – als klare Schuldige an diesem grausamen Völkermord vor 75 Jahren – ihre deutschen Leserinnen und Leser aufzufordern, auf der Hut zu sein und ähnliche Entwicklungen wie die unter Hitler rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern, benutzt die «Süddeutsche» den Anlass, um – schon in der Headline! – einmal mehr eine verbale Rakete gegen Russland abzufeuern: «Moskau missbraucht das Gedenken an Leningrad». Wie ist sowas überhaupt möglich?

Und wenn man dann zu lesen beginnt, wird es schon im ersten Abschnitt schauerlich. Silke Bigalke schreibt aus Moskau: «Wieder einmal schicken die in Moskau Regierenden Soldaten statt Mitgefühl und verordnen Nationalstolz statt Gedenken. Die Blockade der Stadt, die damals Leningrad hiess, bleibt ein wunder Punkt in Russlands Vergangenheit. Stets wollten die Mächtigen kontrollieren, wie sich die Menschen daran erinnern.»

Es ist unfassbar: Wichtig ist nicht das deutsche Verbrechen, wichtig ist der Zeitung, wie Russland die Gedenkfeier gestaltet. Sind die Redakteure in München von allen guten Geistern verlassen? Welch verlogene Selbstsicherheit herrscht da an der Hultschiner Strasse in Bayerns Hauptstadt?

Man kann es wieder und wieder lesen, weil man es nicht für möglich hält. Und doch:

Wie Russland selber dieses historische Ereignis «feiert», darüber darf diskutiert werden – gerne in Russland selber. Dass Putin, dessen eigener älterer Bruder und andere Familienangehörige zu den Opfern in Leningrad gehörten, da auch eine Militärparade auffahren lässt, darf hinterfragt und kritisiert werden. Russland hat im von Deutschland geplant begonnenen Zweiten Weltkrieg mehr als 27 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger verloren, Millionen von Soldaten, Millionen von Zivilisten. Das Bedürfnis, an die militärische Befreiung Leningrads aus der Umzingelung durch die deutsche Wehrmacht zu erinnern, ist so oder so legitim. Aber auch die Versuchung, bei dieser Gelegenheit den westlichen Nachbarn ein wenig zu zeigen, dass man bei einem nächsten Einmarsch aus dem Westen besser gerüstet sein wird als am 22. Juni 1941, ist immerhin nachvollziehbar. So wurden denn am gestrigen Sonntag an der Parade auf dem Palast-Platz in St. Petersburg nicht nur die legendären sowjetischen T-34 Tanks und andere historische Militärfahrzeuge, sondern auch moderne Waffen wie etwa die S-400 Luftabwehrrakete gezeigt. Und es gab, notabene, gestern in St. Petersburg nicht nur die Militärparade, sondern auch viele zivile Gedenkveranstaltungen, zum Beispiel auch ein Konzert mit Schostakowitschs 7. Sinfonie auf dem Programm. Der weltberühmte Komponist lebte damals in Leningrad und war selber von der Blockade betroffen, als er seine 7. Sinfonie schrieb.

«Moskau missbraucht das Gedenken an Leningrad», so die Headline der «Süddeutschen». Treffender wäre: «‹Süddeutsche› missbraucht das Gedenken an Leningrad» – um einmal mehr gegen Moskau zu schiessen.

Moskau hat die Headline der «Süddeutschen» nicht übersehen

Es ist nicht besonders überraschend, dass die Headline der «Süddeutschen» auch in Moskau nicht übersehen wurde. Auch in den Medien war sie ein Thema. Und wie fast immer, wenn Russland von westlichen Medien oder gar prominenten Politikern verbal attackiert wird, fühlen sich auch jene Russinnen und Russen angegriffen und beleidigt, die im Alltag keine besonderen Freunde Putins sind. Immerhin hat er ihnen nach den Katastrophenjahren unter Boris Jelzin Ordnung und Stabilität gebracht.

Ein im russischen Radio gehörter Kommentar lautete: «Russland hätte gegen den Einsitz Deutschlands als nicht-ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat das Veto einlegen sollen. Die Deutschen haben immer noch nicht begriffen, dass es rote Linien gibt.»

Ein deutlich besserer Bericht in der NZZ

Nicht nur die «Süddeutsche» berichtet aus Anlass des 75-Jahr-Gedenkens dieser deutschen Ungeheuerlichkeit gegenüber den Einwohnern der Stadt Leningrad. Einen langen und informativen Bericht zum Beispiel brachte auch die NZZ. Auf unnötige Pfeile gegen das heutige Moskau hat sie weitgehend verzichtet. Das Thema Hungertod in Leningrad ist wahrlich nicht geeignet, um den heutigen Russen am Zeug zu flicken. Zum NZZ-Bericht hier anklicken.

PS: Schweizer Zeitungsleserinnen und -leser mögen aufmerksam bleiben. Silke Bigalke schreibt nicht nur für die «Süddeutsche», sondern auch für den Zürcher «Tages-Anzeiger», in der Vergangenheit vor allem aus Skandinavien.

Mit freundlicher Genehmigung von Infosperber.ch>>>

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