So macht sich Europa total unglaubwürdig

[Kommentar von Christian Müller – Infosperber.ch] – Der Westen weist über 130 russische Diplomaten aus – aufgrund von Vermutungen. Die Russophobie-Hysterie ist brandgefährlich.

Wer auch nur schon ein einziges Geschichtsbuch aufmerksam gelesen hat, kennt den Mechanismus: Hat ein Land ein internes politisches oder wirtschaftliches Problem, schafft ein externer Feind Abhilfe. Ein externer Feind lenkt von internen Problemen ab und, dies vor allem, erzeugt internen Zusammenhalt – Zusammenhalt gegen aussen.

Auch das Vereinigte Königreich (UK) kennt diesen Mechanismus sehr gut, die Engländer hatten ihn im Rahmen der weltweiten Entkolonisierung oft beobachten können. Warum diesen Mechanismus, im eigenen Interesse, nicht auch einmal selbst in Gang setzen?

Premierministerin Theresa May steckt seit Wochen mit ihrer konzeptlosen Brexit-Politik tief in der Krise, wird angefeindet von allen Seiten, auch von der eigenen Partei. Da kommt so ein Zwischenfall wie der Mordanschlag auf den Doppelagenten Sergei Skripal wie gewünscht.

Nur ein Zwischenfall? Ja, gewiss. Spione müssen, um ihre Ziele zu erreichen, Gesetze brechen. Das mag man mit dem Hinweis auf die Motivation dieses Berufsstandes, die «Vaterlandsliebe», entschuldigen. Doppelagenten sind, mit Verlaub, jedoch nichts anderes als Kriminelle. Und in dieser Branche gehört gekillt zu werden zum Berufsrisiko. Ausserdem sind zwischenstaatlich ausgetauschte Agenten reine Non-Valeurs. Und so einer war auch Sergei Skripal, schon seit etlichen Jahren. Wer jetzt noch Interesse an seiner Himmelfahrt haben konnte, ist reine Spekulation. Es kann auch noch eine persönliche Abrechnung gewesen sein, wie zum Beispiel auch unter Mafia-Bossen üblich. Es kann sein, dass er für die eine oder andere Seite immer noch zu viel wusste. Doch warum ihn umlegen, gerade jetzt? Der Zeitpunkt des Anschlags lässt keinen Schluss auf den Auftraggeber zu. Das Gift, mit dem er hätte umgebracht werden sollen, Novitschok, wurde zwar in der Sowjetunion entwickelt, ist aber mindestens auch in den USA, in Grossbritannien und in Tschechien ebenso bekannt und vorrätig. Und so wenig wie die Agenten am Ort ihrer Untaten ihre Visitenkarte liegen lassen (es sei denn aus Versehen), so wenig ist wahrscheinlich, dass ein hochprofessioneller Geheimdienst ein Gift einsetzt, das ihn als Täter gleich identifiziert.

Nichtsdestotrotz ist es «höchstwahrscheinlich» («highly likely»), dass Russland hinter dem Anschlag steckt, wie London, Brüssel und Washington es jetzt zu formulieren pflegen. Und aufgrund einer «höchstwahrscheinlichen» Täterschaft werden nun über 130 Diplomaten des Landes verwiesen: 23 in UK, 33 in 16 EU-Staaten, 60 in den USA, 4 in Kanada, 2 in Australien, 13 in der Ukraine. Und auch Norwegen, Albanien und Mazedonien machen mit.

Trotz Aufforderung von verschiedener Seite an Grossbritannien, doch bitte zuerst Beweise für Russlands Urheberschaft vorzulegen, hat Grossbritannien bisher nichts dergleichen zeigen können.

Falsche Signale

Dass die USA zurzeit alles tun, um den Weltfrieden zu gefährden, ist bekannt. Dass die Ukraine, Albanien und Mazedonien die Gelegenheit benützen, um sich beim Westen anzubiedern, ist nachvollziehbar. Dass Kanada – mit einer nicht zu vernachlässigenden Anzahl Exil-Ukrainer – da mitzieht, ist zumindest keine Überraschung. Total enttäuschend aber ist die Beteiligung der EU-Staaten an dieser Russophobie-Hysterie (Es war nicht die Kommission, die das wollte, sondern eine Empfehlung des Rates, der Versammlung der Premierminister). Und die Begründung für die Ausweisungen – «Solidarität» mit dem Vereinigten Königreich, wie es der neue deutsche Aussenminister Heiko Maas formulierte – ist schizophren, um nicht zu sagen skandalös. Seit Jahren wird echte Solidarität – Solidarität mit Unterprivilegierten, mit Benachteiligten – mehr und mehr beiseite geschoben, jetzt aber, wo es gelegen kommt, mit dem Mechanismus eines äusseren Feindes mehr inneren Zusammenhalt zu erreichen, ist plötzlich von «Solidarität» die Rede.

Mit Verlaub: Auf einen Staatenbund, der nicht auf gleichen Wertvorstellungen basiert, sondern lediglich auf einem gemeinsamen, künstlich hochgezogenen Feind, kann man pfeifen. Weder die USA noch Russland noch China sind an einem starken, geeinten Europa interessiert. Alle lachen sich ins Fäustchen, wenn sich Europa entzweit oder gar «finnlandisiert» – in viele Teile zerlegt, wie es etwa mit dem früheren Jugoslawien geschehen ist. Jetzt aber ausgerechnet Russland zum offenbar notwendigen äusseren Feind zu machen, wo Russland geographisch, historisch und kulturell doch sehr wohl zu Europa gehört, ist politisch kontraproduktiv und verheerend.

Die jetzige Hysterie mit über 130 Ausweisungen von russischen Diplomaten aufgrund eines Mordanschlages auf einen Doppelagenten und seine Tochter – inszeniert von wem auch immer! – wird nicht als Glückstag in die Geschichte eingehen. Vielleicht erinnert man sich bei dieser Gelegenheit daran, dass auch der Erste Weltkrieg mit über 17 Millionen Kriegsopfern mit einem Mordanschlag angefangen hat – mit einem Mordanschlag auf einen Mann und eine Frau – am 28. Juni 1914 in Sarajewo.

Mit freundlicher Genehmigung von Infosperber.ch>>>

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