Der Gründer und Leiter der Hilfsorganisation Nushna pomoschtsch („Hilfe gesucht“) Mitja Aleschkowski erzählt, wie es in Russland mit der Wohltätigkeit steht.
Mitja, auf der Internetseite Ihrer Stiftung „Hilfe gesucht“ schreiben Sie, dass die Mission der Stiftung darin besteht, Wohltätigkeitsorganisationen in Russland zu entwickeln und bekannt zu machen.
Mitja Aleschkowski: Nehmen wir mal an, ein Mann erkrankt an Krebs (und in Russland bekommen jedes Jahr 2,5 Millionen Menschen diese Diagnose), sagen wir in Krasnojarsk. Dies ist das Zentrum Sibiriens, ein Finanzzentrum, eine Millionenstadt. Also geht dieser Mann in eine staatliche Klinik. Und dort brauchen Sie zwei Wochen, allein um sich für ein EKG anzumelden. Einfach ausgedrückt, die Chance, dass ein solcher Mensch nicht überlebt, wenn er sich an die staatliche Klinik wendet, ist sehr groß. Es gibt noch die andere Möglichkeit, in eine Privatklinik zu gehen. Aber das ist teuer und ohne Garantie. Was machen also solche Menschen? Und ich spreche hier nicht von Städten mit nur 20.000 Einwohnern. Das Problem ist, dass es in Russland keine Alternative gibt und es keine öffentliche Einrichtung gibt, die in der gegenwärtigen sozioökonomischen Situation eine Lösung für solche Probleme bieten kann. Eine unserer Hauptaufgaben ist es, eine solche Alternative zu bieten. Für jedes Problem soll es in jeder Stadt eine Organisation geben. Sogar ich, der sich bestens mit der russischen Wohltätigkeit auskennt, weiß nicht, wohin ich in Krasnojarsk mit einer onkologischen Diagnose gehen könnte.
In der Tat sprechen Sie über Aufgaben, die der Staat lösen sollte, und keine Hilfsorganisationen …
Mitja Aleschkowski: Meinen Sie? Aber warum werden dann in Deutschland Kinderhospize zu 80 Prozent durch private Spenden finanziert? Sind wir Bürger oder nicht? Der Staat in russischer Sprache ist oft synonym mit dem Wort „Macht“, aber in Wirklichkeit bedeutet Staat öffentliche Institutionen. Ein Bürger ist nicht einer, der einen Pass besitzt, sondern der handelt. Wenn wir in einem Staat leben wollen, der nach einem paternalistischen Prinzip organisiert ist, von dem wir immer etwas erwarten, dann können wir sagen: Der Staat ist für alles verantwortlich. Dieses Prinzip führte uns jedoch zu dem Modell, in dem wir jetzt leben. Ich sage nicht, dass der Staat keine sozialen Funktionen erfüllen sollte. Aber gemeinnützige Organisationen ermöglichen eben, die Erfüllung dieser Funktionen zu kontrollieren. Ohne diese demokratischen Institutionen werden die Behörden nichts tun. Wir sehen das in ganz Russland: Sobald Institutionen auf die Bühne treten, taucht sofort der politische Wille auf. Ich nenne das „Revolution auf evolutionäre Weise“. Wenn die Menschen gestern an irgendeinem Problem gestorben sind und heute nicht mehr. Ist das nicht eine revolutionäre Veränderung? Wir wollen, dass Menschen Bürger werden, Veränderungen bewirken, ihre Ressourcen investieren und dies auch von den Behörden fordern. Und gemeinsam würden sie sich selbst, die Gesellschaft und das Land weiterentwickeln.
Wie genau entwickeln Sie die Wohltätigkeit?
Mitja Aleschkowski: „Hilfe gesucht“ ist eine Stiftung für Stiftungen, sozusagen ein Kreislaufsystem von Stiftungen. Wir unterstützen die Arbeit von 181 gemeinnützigen Organisationen in ganz Russland von Kaliningrad bis Wladiwostok, wir sammeln Geld für sie. Wir sprechen über die Arbeit dieser Stiftungen. Wir haben ein Ausbildungsprogramm für Mitarbeiter von gemeinnützigen Organisationen. Wir haben einen eigenen Verlag gegründet, weil es in Russland weniger Fachliteratur über Wohltätigkeit gibt als Bücher über Maniküre. Immerhin arbeiten bereits 1,5 Millionen Menschen in diesem Sektor, aber sie können sich nirgendswo informieren. Darüber hinaus betreiben wir Forschung. Schließlich brauchen wir Daten. Zum Beispiel kann man heute nirgendwo die Anzahl der Waisen in einem bestimmten Gebiet herausfinden. Jetzt starten wir die Plattform „Um genau zu sein“, die die Lösung für soziale Probleme verändern wird. Wir werden eine Karte von Russland mit allen sozialen Problemen zeichnen. Unser wichtiges Projekt „Solche Dinge“ erzählt von Menschen, von Projekten gemeinnütziger Organisationen. In unseren Medien geht es ja nur um Politik, und nicht um Menschen. Und natürlich sind wir eine Expertenorganisation und zertifizieren gemeinnützliche Stiftungen.
Wie beurteilen Sie das Niveau der sozialen Sphäre in Russland?
Mitja Aleschkowski: Ich war letztes Jahr auf 56 Geschäftsreisen und kenne die soziale Situation in Russland sehr gut. Und ich sage Ihnen, es ist wie ein paar Sekunden nach einer Atomexplosion in Hiroshima. Ja, wir haben mehrere Organisationen, die bestimmte schwerwiegende Probleme lösen. Beispielsweise deckt die Stiftung „Schenk Leben“ das Thema Pädiatrische Onkologie ab. Aber in ganz Russland gibt es nur vier Kinderhospize! Wir brauchen aber Kinderhospize in jeder Stadt! In der gesamten Region Irkutsk gibt es nur zwei Logopäden! Das ist eine Katastrophe! Das Hauptproblem ist, dass wir in Menschen eine Berichtseinheit sehen, keine Person. Und das ist keine Frage des Geldes und keine Frage der Politik. Es ist eine Frage des Wollens. Denken Sie an unsere Geschichte: In unserer Mentalität ist verankert, dass alles irgendwie von selbst gelöst werden soll. Ich betrachte unsere Arbeit als die Rettung meines Landes. Ich kenne meine Abstammung aus dem 17. Jahrhundert und möchte Russland nicht verlassen!
Anders als in Deutschland gibt es in Russland einfach keine Tradition für Wohltätigkeit bzw. war sie durch die Oktoberrevolution unterbrochen …
Mitja Aleschkowski: Jetzt ist eine sehr gute Zeit für wohltätige Zwecke. Die Menschen sehen die Situation um sie herum und beginnen bereitwillig zu spenden. Es ist nicht die Frage der Tradition, sondern der Unabhängigkeit. Vielmehr haben wir keine Tradition des selbständigen Denkens, der Verantwortung für das Land, für die Zukunft. Wir haben bis heute keine Mittelklasse. Die Wohltätigkeit verbindet dich mit deinem Land: hier ist das Problem, du musst es selbst lösen. In den letzten fünf bis zehn Jahren hat die Wohltätigkeit in Russland einen großen Sprung nach vorne gemacht. Aber diese Entwicklung ist von Grund auf neu. In der Rankingliste des World Giving Index nahm die Russische Föderation den 129. Platz ein, jetzt sind wir auf dem Platz 111. Die palliative Bewegung beginnt sich in unserem Land zu entwickeln. Die Situation mit Waisenkindern hat sich gravierend verändert. Die Zahl der Kinder in Waisenhäusern hat sich halbiert.
Die Verbesserung der Professionalität gemeinnütziger Organisationen ist eines der Ziele Ihrer Stiftung. Kürzlich habe ich einen Ihrer Organisationen angerufen und war erstaunt, wie perfekt die Hotline dort funktioniert.
Mitja Aleschkowski: Wir sind mit der Welt verbunden, tauschen Informationen aus, fliegen zu Konferenzen. Es stimmt, in Russland gibt es heute Dutzende von erstklassigen gemeinnützigen Organisationen. Dies reicht aber leider nicht aus. Kann ich Ihre Leser direkt ansprechen?
Natürlich!
Mitja Aleschkowski: Russland tritt in den Nachrichten als Supermacht mit Atomwaffen auf. Aber die Krankenhäuser von Jaroslawl unterscheiden sich nicht sehr von den Krankenhäusern in Somali. Zwanzig Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze und haben kaum Hoffnung. Für sie ist jede Unterstützung wichtig, egal woher sie kommt.
[Daria Ball-Palievskaya/russland.NEWS]
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