Schwieriger als Kant – russische Gesetzestexte immer unverständlicherHSE© russland.NEWS

Schwieriger als Kant – russische Gesetzestexte immer unverständlicher

„Die Verwirklichung der Rechte auf Erhalt von Sozialschutzmaßnahmen (Unterstützung) in Form von Sach- oder Geldleistungen sowie der Erhalt von Zahlungen im Rahmen der obligatorischen Sozialversicherung erfolgt durch die Bürger ab dem 1. Januar 2015 in der Art, Höhe, dem Umfang und den Bedingungen, die durch die Gesetzgebung der russischen Föderation vorgesehen sind, vorbehaltlich der durch dieses föderale Gesetz festgelegten Besonderheiten, auf der Grundlage von Dokumenten, die den entsprechenden Status eines Bürgers bestätigen, der durch die geltende Gesetzgebung in den Gebieten der Republik Krim und der föderalen Stadt Sewastopol bis zum 21. Februar 2014.“

Haben Sie diesen Satz verstanden? Und verstehen Sie den nachfolgenden Satz?

„Wenn sie nach viel gemachten Anstalten und Zurüstungen, sobald es zum Zweck kommt, in Stecken gerät, oder, um diesen zu erreichen, öfters wieder zurückgehen und einen andern Weg einschlagen muss; imgleichen wenn es nicht möglich ist, die verschiedenen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht erfolgt werden soll, einhellig zu machen: so kann man immer überzeugt sein, dass ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei, und es ist schon ein Verdienst um die Vernunft, diesen Weg wo möglich ausfindig zu machen, sollte auch manches als vergeblich aufgegeben werden müssen, was in dem ohne Überlegung vorher genommenen Zwecke enthalten war.“

Beim ersten Satz handelt es sich um einen Auszug aus dem russischen Gesetz „Über die Besonderheiten der rechtlichen Regelung der Beziehungen im Zusammenhang mit der Gewährung von Maßnahmen des sozialen Schutzes (Unterstützung), sowie Zahlungen für die obligatorische Sozialversicherung an bestimmte Kategorien von Bürgern mit Wohnsitz in den Gebieten der Republik Krim und der Stadt von föderaler Bedeutung Sewastopol“. Der zweite Satz ist ein Zitat aus der „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant.

So fanden Wissenschaftler der Higher School of Economics (HSE) heraus, dass die modernen russischen Gesetze schwieriger zu verstehen sind als die Schriften des großen deutschen Philosophen. Experten des Instituts für Staats- und Kommunalmanagement an der National Research University HSE führten eine Studie durch und stellten fest, dass die Komplexität von Gesetzestexten oft redundant ist. Der gleiche Inhalt kann mit einfacheren sprachlichen Konstruktionen vermittelt werden, so die Autoren der Studie. Heute enthalten Gesetze im Durchschnitt 2,4 Mal mehr Wörter als 1991, die Artikel sind dreimal so lang, und die Sprache der Gesetze ist zehn Mal komplexer als die russische Literatursprache.

Für die Analyse wurden 592 russische Gesetzgebungsakte herangezogen. Die Forscher fanden heraus, dass die durchschnittliche Anzahl der Wörter in einem Gesetz von 4.970 im Jahr 1991 auf 12.450 im Jahr 2019 anstieg, während sich der Umfang eines einzelnen Artikels von 96 auf 291 Wörter verdreifachte. Zu den Rekordhaltern gehört der Artikel des Gesetzes „Über die staatliche Regulierung der Produktion und des Umsatzes von Alkohol“ mit 707 Wörtern.

Experten sind der Meinung, dass Sätze auch in Gesetzestexten nicht länger als fünfzig Wörter sein sollten, da lange Sätze den Leser am Lesen hindern, was zu Fehlinterpretationen von gesetzlichen Bestimmungen führt.

Die linguistische Analyse wurde nach mehreren Parametern durchgeführt. Verglichen wurde zum Beispiel der Anteil der Verben an der Gesamtwortzahl, die Anzahl der Wörter zwischen zwei abhängigen Wörtern oder die Anzahl der Prädikat-Kerne (Subjekt plus Prädikat) in einem Satz.

Zum Vergleich nahmen die Forscher literarische Werke wie „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi. Die Schriftsteller schlagen die Gesetzgeber nur bei zwei Parametern: bei der Anzahl der Wörter in einem Absatz (37 bei Leo Tolstoi vs. 30,4 bei den russischen Gesetzen) und bei der Anzahl der Prädikatkerne (1,45 bei Tolstoi vs. 1,2).

In allen anderen Fällen stellte sich heraus, dass die Gesetze komplexer sind als die Bücher. So liegt der Anteil der Verben in belletristischen Werken bei 17 bis 19 Prozent während er in normativen Akten nur 3,8 Prozent beträgt. Literarische Werke und sogar philosophische Werke erwiesen sich also als leichter zu verstehen als die russischen Gesetze. „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant zum Beispiel lag im Ranking der innerstaatlichen Vorschriften nur auf Platz 78, während der Komplexitätsindex von „Anna Karenina“ nur bei sechzehn Punkten lag.

Das Gesetz „Über die Besonderheiten der rechtlichen Regelung der Beziehungen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Maßnahmen des sozialen Schutzes (Unterstützung), sowie Zahlungen im Rahmen der obligatorischen Sozialversicherung für bestimmte Kategorien von Bürgern mit Wohnsitz in den Gebieten der Republik Krim und der Stadt von föderaler Bedeutung Sewastopol“ ist dabei am schwierigsten zu verstehen. Die am einfachsten geschriebenen Dokumente sind die russische Verfassung und das Gesetz über die Regierung der Russischen Föderation.

„Es ist klar, dass das Gesetz kein literarisches Werk ist. Aber die Vereinfachung der Sprache der normativen Akte zielt darauf ab, sie mit den Normen des literarischen Russisch in Einklang zu bringen“, sagte einer der Autoren der Studie, Alexander Knutow. Seiner Meinung nach werden die Gesetzestexte immer komplex bleiben – sie enthalten viele juristische Begriffe. Die Komplexität sollte jedoch nicht übermäßig sein.

„Gesetze werden in erster Linie für Juristen geschrieben – sie sind diejenigen, die sie lesen und auslegen. Wenn ein Mensch ohne Fachausbildung einen Gesetzestext nicht versteht, kann man sagen, dass er ihn nicht verstehen soll. Aber wenn selbst ein Anwalt sagt, dass der Text sehr kompliziert ist, ist das bereits ein Indikator“, meinte Alexander Knutow.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

 

 

 

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