Eine russische Bloggerin hat ein satirisches Video veröffentlicht, das den Besuch bei einem Psychologen parodiert: „Junge Frau, waren Sie schon bei einem Astrologen? Und bei einer Wahrsagerin? Und bei einer Hellseherin? Einem Schamanen? Einem Tarot-Kartendeuter? Und bei einem Numerologen? Ja? Na wunderbar, dann kommen Sie auf jeden Fall zu uns!“
Das gestiegene Interesse der Russen an allem, was mit Esoterik zu tun hat, wird durch Statistiken belegt. So ist im vergangenen Jahr die Nachfrage der Russen nach esoterischer Literatur um 20 Prozent und der Verkauf von Tarotkarten um 36 Prozent gestiegen. Dabei ist das Genre „Praktische Esoterik“ besonders beliebt. Die Nachfrage nach religiöser Literatur stieg um 40 Prozent. Die Verkäufe von Büchern über Psychologie und Selbstentwicklung stiegen um 25 Prozent im Vergleich zu den Zahlen von 2022.
In einem Interview mit der Zeitung Kommersant erklärte Ewgeny Kapjew, Generaldirektor des großen russischen Verlagshauses Eksmo-AST, diesen Trend damit, dass Menschen mit Hilfe einiger nicht sehr wissenschaftlicher Ideen Antworten auf ihre Fragen finden wollen. „Der Verkauf von Tarotkarten, Büchern über Astrologie usw. nimmt sehr stark zu. Wenn wir über Religion sprechen, sehen wir in diesem Jahr ein sehr starkes Wachstum beim Verkauf von Büchern zu diesem Thema. Das liegt daran, dass die Menschen Stabilität, Halt in etwas sehen wollen, und dabei hilft die Religion, die Orthodoxie.“
Die Nachfrage nach Esoterik und mystischen Sendungen wird auch von russischen TV-Sendern festgestellt. Experten führen den Trend auf den Wunsch der Menschen zurück, in Krisenzeiten „der Realität zu entfliehen“ und „die Gründe für alles, was geschieht, zu verstehen“. So stiegen die Einschaltquoten der Sendung mit dem Titel „Der neue Kampf der Hellseher“ seit 2022 sprunghaft.
Darüber hinaus hat die Beliebtheit mystischer Online-Kurse seit 2022 zugenommen. Allein im Jahr 2022 gaben Russen etwa 67 Millionen Euro für solche Kurse aus. Im vergangenen Jahr hat sich das Publikum der Online-Schulen für Wahrsagerei, Tarot und Astrologie fast verzwanzigfacht, schreiben Journalisten unter Berufung auf die Berechnungen von Experten. Das Interesse der Russen an der Esoterik und die steigende Nachfrage nach allen Arten von Amuletten wird mit dem Versuch erklärt, in der Krisenzeit ein Gefühl der Kontrolle über die Situation zu erlangen. Generell ist der Glaube an Heiler und Hexerei und die Faszination für mystische Literatur in der Geschichte der Menschheit schon oft vorgekommen. Die amerikanische Historikerin Monica Black hat ein Buch mit dem Titel „Deutsche Dämonen: Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland“ geschrieben, in dem sie die Gründe für dieses Phänomen aufzeigt. In einem Interview mit der russische Exil-Zeitung Meduza sagte sie: „Viele Menschen haben ja erst in der letzten Minute gemerkt, dass sie den Krieg verloren haben. Auch als die Sowjetische Armee und die Armeen der Alliierten in ihre Stadt einmarschierten, haben sie es nicht so recht begriffen. Und dann wurden plötzlich alle deutschen staatlichen Institutionen demontiert und durch die Besatzung ersetzt. Die Deutschen sahen sich mit der Verantwortung für schreckliche Verbrechen konfrontiert, deren Bilder alle Medien füllten: Plakate und Bilder von den Schrecken der Konzentrationslager waren überall zu sehen. Ich glaube, in diesem Moment waren sie wie im Nebel – sie wussten einfach nicht, was sie denken oder tun sollten, und sie wussten nicht, wem sie vertrauen konnten. Ich denke, in solchen Situationen sucht man nach alternativen Antworten.“
[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]
COMMENTS