„Russlands wichtigste Wahl fand in Deutschland statt“: russischer Blogger über russisch-deutsche Beziehungen nach BundestagswahlPawel Prjannikow @ russland.NEWS

„Russlands wichtigste Wahl fand in Deutschland statt“: russischer Blogger über russisch-deutsche Beziehungen nach Bundestagswahl

Der in Russland bekannte Journalist und Blogger Pawel Prjannikow reflektiert in seinem Telegram-Kanal „Interpreter“ über verschiedene politische und wirtschaftliche Themen. russland.NEWS sprach mit ihm über die Auswirkungen der Bundestagswahl auf das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland.

Pawel, Sie schreiben auf Ihrem Kanal, dass die wichtigsten Wahlen für Russland nicht in Russland, sondern in Deutschland stattgefunden haben. Was meinen Sie damit?

In Russland gibt es keine Wahlen, sondern die Zusammenstellung der Staatsduma. In Deutschland gibt es einen echten politischen Wettbewerb. Aber das ist für uns nicht die Hauptsache; die Hauptsache ist, dass das politische und wirtschaftliche Leben in Russland davon abhängt, was in Deutschland geschieht. Bislang waren die Deutschen der wichtigste westliche Technologiepartner unseres Landes. Trotz des ständigen Geschreis über aggressive Nato-Länder und den verfluchten Westen werden wir nicht ohne westliche Technologie auskommen. Deutschland ist für etwa 60 Prozent davon verantwortlich. Es ist die Gasindustrie, es ist die Wasserstofftechnologie. Russland führt jedes Jahr Maschinen, Anlagen und Ausrüstungen im Wert von 100 Milliarden Dollar ein. Das sind 80 Prozent aller Technologien, die Russland braucht! Das bedeutet, dass nur 20 Prozent im Land selbst produziert werden. Außerdem verschließt Deutschland immer wieder die Augen vor dem, was in unserem Land vor sich geht. Erinnern Sie sich zum Beispiel an die Geschichte mit den Siemens-Gasturbinen, die an die Krim geliefert wurden. Oder nehmen Sie das Thema der Krim-Brücke. Insgesamt waren dort mehr als 100 ausländische Zulieferer beteiligt, darunter viele deutsche Unternehmen.

Schauen wir uns nun die einzelnen Kanzlerkandidaten an. Sie denken, dass während des Machttransfers in Russland Olaf Scholz der beste Kanzler für Russland wäre. Warum?

Vor dem Machtwechsel, der wahrscheinlich im Jahr 2024 stattfinden wird, „friert“ die Regierung das ganze Land ein, da sie jede Unruhen fürchtet und versucht, ein superkonservatives System zu schaffen. Sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik muss Ruhe herrschen. Und es ist Olaf Scholz, der, wie mir scheint, am ehesten bereit sein wird, bei einem weiteren Angriff auf die russische Opposition oder die Presse ein Auge zuzudrücken. Er wird sagen, es sei eine interne Angelegenheit Russlands, das schon immer ein bisschen barbarisch war. Es ist besser, ein solches Russland zu haben, aber ein ruhiges, nicht ein aggressives. Man darf nicht vergessen, dass er ziemlich lange Beziehungen zu Putin hat. Er selbst stammt aus Hamburg, der Partnerstadt von St. Petersburg. Scholz reiste mehrmals nach St. Petersburg, hatte bereits in den 90er-Jahren mit Putin zu tun, oder zumindest mit seinem Team, als Putin stellvertretender Bürgermeister von St. Petersburg war. Ich glaube, er weiß alles über Russland und seinen Präsidenten. Außerdem war die SPD immer loyaler gegenüber Russland als die CDU. Willy Brand begann seine Ostpolitik, der Technologietransfer für Gas begann damals. Stellen Sie sich vor, während des Baus der Eisenbahnstrecke Baikal-Amur-Magistrale in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts lieferte Daimler 10.000 schwere Lkw an die Sowjetunion. Also die sowjetische Jahrhundertbaustelle wurde auch mit Hilfe von deutschem Gerät realisiert. Scholz wäre also ein idealer Partner für Russland in dieser Zeit.

Und was halten Sie von Armin Laschet?

Ich denke, dass im Fall von Laschet die Beziehungen zu Russland stärker formalisiert werden. Wenn man alles in Prozenten misst, liegt Lachet irgendwo bei 80 Prozent des SPD-Kandidaten. Das CDU/CSU-Bündnis ist stärker eurozentrisch ausgerichtet, stärker in EU-Fragen und in den Beziehungen zu Frankreich engagiert. Russland ist weit davon entfernt, ganz oben auf ihrer Tagesordnung zu stehen. Scholz hingegen ist mehr auf Osteuropa ausgerichtet.

Sie haben geschrieben, dass Russland aufatmen kann, weil kein Kandidat der Grünen das Kanzleramt in Berlin übernimmt.

Annalena Baerbock wäre die unangenehmste Kanzlerin für Russland. Natürlich würde der Handel zwischen unseren Ländern weitergehen, denn es gäbe ernsthaften Druck seitens der deutschen Großindustrie. Aber man hätte mehr über Menschenrechte, die Situation von Minderheiten usw. gesprochen. Das wäre sehr ärgerlich für die Putinisten, die den Machtwechsel in aller Stille vollziehen wollen. Auch bei Nord Stream 2 wäre es zu erheblichen Komplikationen gekommen. Die Europäische Kommission hat entschieden, dass die Pipeline nur zu 50 Prozent von Gazprom genutzt werden darf. Aber sie werden einen anderen Gaslieferanten aus Russland finden, zum Beispiel Rosneft. Ich denke, wenn Baerbock gewonnen hätte, hätte es keinen Raum für Diskussionen gegeben, sie wäre keine Kompromisse eingegangen. Nun wird es wahrscheinlich zu einem sehr langen Verhandlungsprozess kommen. In diesem Winter wird sich zeigen, dass Deutschland ohne russisches Gas nicht weiterkommt. Solar- und Windenergie sind gut, aber sie sind bisher keine zuverlässigen Energielieferanten.

Die Grüne Partei ist traditionell vorsichtig gegenüber Russland, um es milde auszudrücken. Wie erklären Sie sich diese Abneigung der Grünen gegenüber Russland?

Die Ursprünge der Grünen liegen in den linksextremen trotzkistischen Gruppen der 1970er-Jahre. Lesen Sie die Biographie von Joschka Fischer. Es wird sofort klar, dass ein Mann, der der RAF nahestand, keine positive Einstellung zur Sowjetunion haben konnte. Leo Dutschke war an den Anfängen der Grünen Partei beteiligt. Diese Linken waren noch schärfere Kritiker der Sowjetunion als die Rechten. Sie glaubten, dass sein Sozialismus falsch sei, insbesondere nach den Ereignissen von 1968, dass die Sowjetunion die linke Idee verraten und die Einführung des Sozialismus in der Welt verzögert habe.

Sie äußerten sich neulich in dem Sinne, dass die russische Politik den gesunden Menschenverstand bewiesen habe, sich nicht an der AFD-Propaganda zu beteiligen, wie sie es bei den Wahlen 2017 getan hat, das heißt der CDU und der SPD die Stimmen der Spätaussiedlern zugunsten dieser Partei wegzunehmen. Wie hat Ihrer Meinung nach Russland die Spätaussiedler beeinflusst? Wo konnten Sie dies beobachten?

Zum Beispiel in Telegram-Kanälen oder in den sozialen Medien. Im Jahr 2017 lief die Propaganda für die AFD buchstäblich auf hohen Touren. Sie brachten Abgeordnete dieser Partei zu verschiedenen Symposien nach Russland und versuchten, sie auf diese Weise zu unterstützen. Diesmal gab es bei Facebook und Twitter kaum Diskussionen über die Bundestagswahl. Offenbar hielt man es für wichtiger, die Grünen draußen zu halten. Das Einzige, was über sie gesagt wurde, war das, was unsere Propaganda immer sagt: Diese Partei bestehe ausschließlich aus Transgender-Personen. Und das kann einem Russen vielleicht wirklich Angst machen.

Daria Boll-Palievskaya

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