Russlandexperte Kai Ehlers: Putin ist ein Krisenmanager

Anlässlich des Friedensmarsches der beiden ehemaligen Ost-West-Grenzstädte Treffurt in Thüringen und Wanfried in Hessen, gab der Publizist Kai Ehlers, der mit einem Workshop die Veranstaltungsreihe eröffnete, der örtlichen Presse ein Interview. Hierbei erläutert er seine Sicht auf die derzeitige Politik Russlands und die deutsch-russischen Beziehungen im Besonderen:

Wanfried – Krise in der Ukraine, Nato-Truppen entlang der russischen Grenzen – das Verhältnis zu Russland ist angespannt. Manche sprechen bereits von einer Krisenspirale, die in einem ernsthaften Konflikt enden könnte. Wir sprachen mit dem Russlandexperten Kai Ehlers aus Hamburg über die deutsch-russischen Beziehungen, die diesen Samstag auch in einem Workshop mit Vortrag in der Demokratie-Werkstatt Wanfried erörtert.

Herr Ehlers, wie steht es aktuell um die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland?

Kai Ehlers: Schlecht. Die deutsche Wirtschaft sieht nach wie vor in Russland ihren Markt, nicht nur im Sinne von Gebrauchsgütern, sondern auch bei technischen Gütern und Know-how, insofern ist sie sehr interessiert an der Weiterentwicklung und auch daran unterhalb der ganzen Sanktionen wirtschaftlich zu kooperieren. Politisch wird die Wirtschaft zu ihrem großen Leidwesen durch die Sanktionspolitik gestoppt.

Wie ist das Verhältnis der beiden Staaten aus historischer Perspektive?

Ehlers: Historisch haben die Deutschen und die Russen eine sehr wechselvolle Geschichte. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der deutschen Einheit war die Freundschaft erst einmal groß. Das blieb auch lange Zeit so, bis Russland, das damals ziemlich auf den Knien lag, sich erholte, stärker wurde und wieder eigene Interessen vertrat. Und Deutschland musste sich darauf besinnen, mit seinem Hauptpartner USA einen Weg zu gehen, der sich gegen Russland richtet.

George Friedman hat in seiner Stratfor-Rede (Stichwort) ganz offen darüber gesprochen, dass Amerikas Geopolitik seit dem Ersten Weltkrieg darum bemüht ist, Deutschland und Russland zu entzweien. Soll damit eine eurasische Wirtschaftsmacht verhindert werden?

Ehlers: Ja, das ist die ganz große Linie und Stratfor ist bekannt für ganz große Worte. Aber im Prinzip kann man sagen, es gibt so eine Linie, die kann man in der Geschichte verfolgen. Eine deutsch-russische Vereinigung als Kerngruppe für ein vereinigtes Eurasien wäre natürlich der Worst Case (zu deutsch: der ungünstigste anzunehmende Fall) für die USA.

Medial kommt Russland bei uns sehr schlecht weg. Der Aggressor Russland habe die Krim annektiert, heißt es unter anderem. War das Ihrer Meinung nach so?

Ehlers: Auf der Krim hat ein Referendum stattgefunden, das steht außer Frage. Das war ein Bruchpunkt der ukrainischen Staatlichkeit, dieser Staat, der demokratisch gewählt war, war zu dem Zeitpunkt nicht existent. Die Bewohner der Krim hatten Angst und wollten zu Russland, die Krim ist seit Ewigkeiten Bestandteil der russischen Geschichte. Das war alles eine sehr künstliche Situation, die da entstanden ist, und diese Situation hat dazu geführt, dass eine große Mehrheit dafür gestimmt hat, zurück zu Russland zu gehen und nicht in dieser aufgerührten Ukraine zu bleiben. Dass Russland nachgeholfen hat, ist auch keine Frage, aber eine Annexion war das auf keinen Fall.

Ebenfalls medial diffamiert wird Russland derzeit als Gefahr für das Baltikum. Wie groß ist denn diese Gefahr?

Ehlers: Ich sehe da gar keine Gefahr. Das ist aus meiner Sicht alles Propaganda. Andererseits kann man die baltischen Ängste verstehen, die sich natürlich diesem großen Bruder Russland nicht mehr untergeordnet sehen möchten. Aber diese Ängste werden künstlich hochgepuscht. Die Begründung, die dafür geliefert wird, ist, dass Russland die russischen Minderheiten in den baltischen Ländern dafür benutzen könnte, um diese Länder wieder einzuverleiben – da kann man der Fantasie freien Lauf lassen. Aber es gibt überhaupt keinerlei tatsächlichen politischen Gründe und Fakten, die dafür sprechen, dass Russland irgendwie eine solche Politik machen wollen könnte.

Die Gefahr für das Baltikum ist eine Begründung dafür, dass die Nato-Truppen aktuell an der russischen Grenze stationiert sind. Ist das nicht eher eine Provokation seitens der Nato gegenüber Russland?

Ehlers: Ja, natürlich ist es das. Die ganze Geschichte mit der Nato ist ganz offensichtlich gegenüber dem, was verhandelt wurde zu der Zeit, als Gorbatschow die Grenzen aufgelöst hat, genau andersherum gewendet worden: Die Nato ist nach Osten ausgedehnt worden und jetzt sind an der russischen Grenze Nato-Truppen stationiert. Allerdings ist das, was angeblich kürzlich auf dem Nato-Gipfel in Warschau beschlossen wurde, eine reine Propaganda-Show, denn diese Linie ist beim letzten Nato-Gipfel vor zwei Jahren in Wales bereits beschlossen und auf die Bahn gebracht worden.

Dementsprechend gelassen hat Russland auch darauf reagiert. Was das grundsätzlich bedeutet: Die USA treiben so ihre Einkreisungspolitik gegenüber dem wieder hochkommenden Russland voran, um das Land in dem Rahmen zu halten, in dem man es halten möchte, um so zu verhindern, dass es jemals wieder zu einer Großmacht werden könnte. Russland war eine Zeit lang schwach genug, das dulden zu müssen. Nun muss es das nicht mehr. Die Frage ist jetzt, was das genau bedeutet.

Putin reagiert aktuell tatsächlich sehr gelassen auf Provokationen, ist das der Grund, warum der Konflikt noch nicht hochgekocht ist?

Ehlers: Ich muss noch eins draufsetzen: Die russische Außenpolitik ist eindeutig die des Krisenstabilisators gegenüber einer kriegstreibenden Politik der USA. Das ist ganz offensichtlich an verschiedenen Punkten zu sehen: An der Ukraine, wo von langer Hand eine krisenhafte Lösung der Ukraine-Frage vom Westen her vorbereitet worden ist, das kann man auch in Syrien sehen, wo das Eingreifen Russlands dazu geführt hat, dass dieser schon fünf Jahre unter US-Führung geführte Krieg so von den USA nicht mehr weiter geführt werden konnte.

Sie halten einen Workshop und einen Vortrag zum Thema deutsch-russische Beziehungen in der Demokratie-Werkstatt Wanfried ab, wo aktuell auch ein Friedensforum organisiert wird. Bewirken solche Veranstaltungen etwas?

Ehlers: Wir machen die Politik nicht und haben auch nur einen minimalen Einfluss darauf, was in den oberen Etagen geschieht und was dort – teils auch geheim – verhandelt wird. Nichtsdestoweniger ist jeder Tropfen auf die fürchterlich heißen Steine einfach wichtig. Jede Initiative die in diese Richtung geht, hat ihre Wirkung.

Stichwort: George Friedman und Stratfor

George Friedman,  geboren 1949 in Budapest, ist ein US-amerikanischer Politologe und Publizist. Er gründete und leitete 1996 das private Beratungsinstitut Stratfor. Das Kürzel Stratfor steht für Strategic Forecasting (zu deutsch: strategische Vorhersagen). Dabei handelt es sich um einen US-amerikanischen Informationsdienst, der Analysen, Berichte und Zukunftsprojektionen zur Geopolitik, zu Sicherheitsfragen und Konflikten anbietet. Täglich veröffentlicht Stratfor Länderberichte sowie Analysen zu globalen und regionalen Konflikten. In seinen Analysen bringt Stratfor nicht nur Hintergrundinformationen zu aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, sondern erschließt aus den Bestimmungsfaktoren einer Konfliktlage oder Ländersituation zugleich Prognosen für die Zukunft. (Quelle Wikipedia)

Zur Person:

Kai Ehlers wurde am 19. April 1944 in Büx bei Prag geboren. Er studierte Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaften in Göttingen und Berlin. Während der 68er-Bewegung zog es ihn zur journalistischen und politischen Praxis. Heute lebt Ehlers in Hamburg und ist als selbstständiger Forscher, Autor, Presse- und Rundfunkpublizist tätig und hält Seminare, Vorträge und Workshops an Bildungseinrichtungen. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf den Wandlungen im nachsowjetischen Raum und deren lokalen wie globalen Folgen. Zu diesem Thema hat er bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Sein aktuelles Buch „Die Kraft der ‘Überflüssigen’. Der Mensch in der globalen Perestroika. Wege zur Selbstorganisation“ ist im Buchhandel erhältlich. Pahl-Rugenstein-Verlag, 265 Seiten, 16,90 Euro, ISBN: 389144463X.

Das Interview führte Diana Rissmannund und erschien erstmals in der Werra-Rundschau vom 02.09.2016

 

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