Russland und die Ukraine haben noch eine Menge Arbeit vor sich

Deutschland hat in diesem Jahr den Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa inne. Einer der wichtigsten Schwerpunkte der Arbeit ist die Mitwirkung bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zur Regulierung des Ukraine-Konfliktes. Zudem hat Deutschland als Mitglied der Normandie-Gruppe hierbei eine zusätzliche Verantwortung übernommen. Als Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft sowie als Sonderbeauftragter für den deutschen OSZE-Vorsitz in diesem Jahr hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Gernot Erler in doppelter Verantwortung die Aufgabe zur Regulierung des Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine beizutragen.

Im Gespräch mit russland.RU gab der Politiker seine Einschätzung der Situation.

Herr Erler, vor zwei Jahren wurden im Zusammenhang mit den Ereignissen um die Ukraine vom Westen politische und wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängt. Wie schätzen Sie deren Ergebnisse heute ein?

Wenn man eine Antwort auf diese Frage finden will, so muss man sehen, welche Alternative es damals für den Westen gegeben hätte, auf das Handeln Russlands zu reagieren. Letztendlich entschied man sich für die politische Lösung, aber es gab auch Kräfte, die dafür waren, der Ukraine Waffen zu liefern und sie dabei zu unterstützen, auf militärischem Wege die Kontrolle über ihr gesamtes Territorium wiederzuerlangen. Ich bin sehr froh, dass es bis heute in der EU einen Konsens darüber gibt, dass uns nichts weiter übrig bleibt, als uns zu bemühen, über den so genannten Minsk-Prozess eine politische Lösung des Konfliktes zu finden. In diesem Zusammenhang waren die Sanktionen das einzige Druckmittel, das diesen politischen Willen glaubhaft gemacht hat. Die Beendigung dieser Maßnahmen ist daran gekoppelt, dass Russland seine Verpflichtungen aus den Minsker Vereinbarungen umsetzt. Die derzeitige Laufzeit der Sanktionen endet am 31. Juli dieses Jahres und dann werden wir prüfen, inwieweit Russland die Bestimmungen des Abkommens erfüllt hat. Wenn sichtbar wird, dass sich Russland konstruktiv um eine Realisierung von Minsk 2 bemüht, wovon wir, meiner Meinung nach, zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht in vollem Umfang sprechen können, dann wird es auch keine Verlängerung der Sanktionen geben.

Aber die Minsker Vereinbarungen stellen nicht nur Forderungen an Russland und auch die Ukraine hat bei weitem noch nicht ihren Hausaufgaben gemacht…

Die Minsker Vereinbarungen stellen Forderungen an beide Seiten. Das Schlimme ist, dass selbst die ersten Punkte zur militärischen Entspannung bis heute von beiden Seiten nicht vollständig umgesetzt werden. Wir haben zwar im September vorigen Jahres eine Feuerpause vereinbart, dennoch verzeichnen die OSZE-Berichte bis heute 40 bis 80 Verletzungen pro Tag. Hier wird von der Ukraine Zurückhaltung erwartet, aber auch von den Separatisten, auf die Russland seinen Einfluss geltend machen muss. Nicht zufriedenstellend ist auch der der Zugang der OSZE-Beobachter zu von den Separatisten kontrollierten Territorien der Gebiete Donezk und Luhansk. Da erwarten wir von Russland ein noch stärkeres Engagement. Auch die Ukraine hat noch viel abzuarbeiten, vor allem, was den gesamten politischen Prozess betrifft, also die Verfassungsreform, das Wahlrecht in den betreffenden Gebieten und auch die Öffnungsklausel in der ukrainischen Verfassung zur Autonomie, genauso aber die vereinbarten sozialen Leistungen. Bis heute ist leider keiner der 13 Punkte der Minsker Vereinbarungen vollständig erfüllt worden. Beide Präsidenten haben ihre Unterschrift unter das Dokument gesetzt und wir werden in den kommenden Monaten genau analysieren, an wem es liegt, dass das Abkommen noch nicht umgesetzt ist. Die klare Ansage an Moskau ist, dafür zu sorgen, dass uns dies auch in den Separatistengebieten unumschränkt ermöglicht wird. Im Sommer werden wir dann Bilanz ziehen und über die Sanktionen entscheiden.

Lässt sich heute schon eine Tendenz erkennen?

Gegenwärtig haben wir die Situation, dass Russland immer wieder darauf verweist, dass die Ukraine ihre Verpflichtungen aus Minsk 2 nicht umsetzt und die Ukraine beschuldigt Russland, die Regulierung des Konfliktes zu behindern. Das führt nicht weiter. Dazu kommt, dass wir im Moment keine handlungsfähige ukrainische Regierung haben. Deshalb gab es in den vergangenen Wochen auch deutliche Worte von Politikern aus dem Westen an die ukrainische Führung, für Ordnung zu sorgen, denn ansonsten könnte Russland der Ukraine die Schuld daran geben, dass die Lösung des Konfliktes nicht vorankommt. Das ist das Risiko, das Kiew derzeit trägt.

Könnte es sein, dass die Ukraine bewusst die Umsetzung von Minsk 2 in die Länge zieht, damit die Sanktionen gegen Russland erhalten bleiben?

Natürlich wissen wir, dass es in der Ukraine Kräfte gibt, die an möglichst lange bestehenden Sanktionen interessiert sind und die den Westen zu einer härteren Gangart gegenüber Russland bewegen wollen. Aber es gibt auch andere Kräfte, die sehen, dass dies eine Sackgasse ist. Das Land braucht so schnell wie möglich ein Ende des Konfliktes, braucht Reformen, braucht Vertrauen, zum Beispiel beim Internationalen Währungsfonds, sonst wird es auch wirtschaftlich ganz schwierig. Die IWF-Direktorin Lagarde hat sich in dieser Hinsicht recht eindeutig geäußert. Wir haben zugleich klar gemacht, dass für uns der Kampf gegen Korruption einen hohen Stellenwert hat, denn davon sind ebenfalls wirtschaftliche Prozesse betroffen. Die Ukraine braucht klar strukturierte politische Verhältnisse, wovon man unter der alten Regierung meilenweit entfernt war. Aber das politische Umfeld ist entscheidend für die erfolgreiche Fortsetzung des Minsk-Prozesses, wozu es aus unserer Sicht keine vernünftige Alternative gibt.

Könnte es nicht sein, dass sich mit jedem Tag, den sich die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen in die Länge zieht, das Leben in den abtrünnigen Gebieten verselbständigt und eine Rückkehr in den Bestand der Ukraine immer schwieriger wird?

Also, offiziell hat Russland die territoriale Integrität der Ukraine hinsichtlich dieser Gebiete nicht in Frage gestellt und auch solche Konstrukte wie „Noworossija“ sind wohl vom Tisch. Andererseits wissen wir, dass es in diesen Staatsgebilden starke Kräfte gibt, die einen Anschluss an Russland anstreben, oder eine Eigenstaatlichkeit wollen. Natürlich wissen wir, dass Russland an diese Gebiete Zahlungen leistet, beispielsweise Renten, aber auch andere Sozialausgabe übernimmt. Aber das ändert nichts daran, dass es sich aus unserer Sicht, wie auch in den Äußerungen Russlands, um ukrainisches Staatsgebiet handelt. Wir haben die Unterschriften der drei Vertragspartner – Russlands, der Ukraine und der Separatisten – und von allen erwarten wir die Umsetzung der Vereinbarungen. Sehr viel hängt von der schnellstmöglichen Durchführung von Wahlen ab, aber dafür fehlt bisher das von der Ukraine zu verabschiedende Regionalwahlgesetz. Die Arbeitsgruppe Wahlen der Dreier-Kontaktgruppe in Minsk arbeitet wirklich hart, aber bisher konnte kein Kompromiss gefunden werden. Zum Beispiel in der Frage jener anderthalb Millionen so genannter Binnenflüchtlinge, die eigentlich an ihren ursprünglichen Wohnorten abstimmungsberechtigt wären, oder auch zur Gewährleistung der Sicherheit bei den Wahlen. Hier sind noch keine Einigungen in Sicht, so dass wir auch dabei Kiew und Moskau in der Pflicht sehen.

Könnte es auch sein, dass bestimmte wirtschaftliche Interessen des Westens die Sanktionspolitik beeinflussen?

Ich beantworte diese Frage vielleicht anders, als erwartet, wenn ich sage, dass die Sanktionen natürlich die wirtschaftlichen Belange des Westens berühren und deshalb Deutschland, wie auch andere EU-Staaten daran interessiert sind, dass die Sanktionen so schnell wie möglich aufgehoben werden können. Denn Russland ist und bleibt ein wichtiger Handelspartner. In den vergangenen zwei Jahren haben wir erhebliche Verluste erlitten: Im Jahr 2014 ging der deutsch-russische Handel um 18 Prozent zurück, im vergangenen Jahr sogar um 25 Prozent. Das ist ein immenser Einbruch. Der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft hat immer wieder deutlich gemacht, dass in Deutschland 350 000 Arbeitsplätze am Russlandgeschäft hängen. Anderen Ländern, wie Italien oder Frankreich, geht es ähnlich. Wir alle wollen, so schnell wie möglich, aus den Sanktionen raus, die ja kein Selbstzweck waren und auch nicht das Ziel hatten, die russische Wirtschaft zu schädigen, sondern die wir als einzig wirksames politisches, nicht militärisches Druckmittel auf Russland angesehen haben.

Welche Rolle spiele die USA in diesem Prozess der Sanktionen?

Keine nennenswerte. Es war immer so, dass die EU Sanktionen erlassen hat und die Amerikaner haben dann nachgezogen. So kommt es auch, dass die US-amerikanische Sanktionsliste deutlich kürzer ist als die europäische. Von russische Seite wird gern behauptet, dass wir nur machen würden, was die Amerikaner sagen. Aber das stimmt in diesem Falle nicht. In einige Entscheidungen der EU waren die USA überhaupt nicht einbezogen.

Welche Konsequenzen könnte, aus Ihrer Sicht, das Ergebnis des Referendums in den Niederlanden letzten Endes für die Regulierung des Ukraine-Konfliktes haben?

Der negative Ausgang des Referendums in den Niederlanden über das EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen ist eine Tatsache, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, auch wenn es uns alles andere als erfreuen kann. Natürlich hätten wir uns eine breite Zustimmung in der niederländischen Bevölkerung für das Abkommen gewünscht. Das Referendum ist zunächst einmal ein beratendes, ohne unmittelbare rechtliche Auswirkungen. Wir werden nun abwarten müssen, welche weiteren Entscheidungen die niederländische Regierung und das Parlament in Anbetracht des Wählervotums fällen. Das Assoziierungsabkommen wird in den Teilen, die reine Zuständigkeiten der EU und nicht der Mitgliedsstaaten berühren, bereits seit 1.11.2014, der Handelsteil seit 1.1.2016 vorläufig angewandt. Diese vorläufige Anwendung bleibt von den innenpolitischen Vorgängen in den Niederlanden unberührt.

Deutschland hat in diesem Jahr den OSZE-Vorsitz inne und Sie sind dabei in leitender Funktion im Auftrag der Bundesregierung tätig. Welche Ziele haben Sie sich gestellt?

Ich bin Sonderbeauftragter der Bundesregierung für den OSZE-Vorsitz in diesem Jahr. Dieser Organisation gehören immerhin 57 Staaten an und zu den wichtigsten Aufgaben zählen die Sicherung des Friedens und die Beteiligung an der Konfliktlösung auf dem europäischen Kontinent. Insofern wird natürlich der Einsatz der Beobachtermission in der Ost-Ukraine ein besonderer Schwerpunkt meiner Tätigkeit sein. Ich möchte in enger Zusammenarbeit mit den Einsatzkräften vor Ort objektiv und effektiv zur Lösung des Konflikts beitragen.
In den letzten Tagen standen zudem die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg Karabach im Mittelpunkt unserer Arbeit. Im Gespräch mit den beteiligten Seiten und in Abstimmung mit Russland haben wir zur Beruhigung der Situation beigetragen. Neben dem aktuellen Krisenmanagement haben wir einen Jahresplan ausgearbeitet, bei dem ebenfalls die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen dem Westen und Russland ein Schwerpunkt ist.

Herr Erler, Sie gelten gemeinhin als „Russland-Versteher“. Hat sich in diesem Punkt Ihre Einstellung zu dem Land in den vergangenen beiden Jahren geändert?

Ich halte nicht viel von diesen Einordnungen. Ich denke, etwas Anderes ist wichtig. Wir haben erkannt, dass sich die Wahrnehmung von Politik in Russland und im Westen in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten auseinander entwickelt hat. Die westliche Seite war immer der Auffassung, dass man mit Russland einen intensiven Dialog führen muss, dass Regierungsverhandlungen zu führen sind, dass wirtschaftliche Zusammenarbeit, auch im Energiesektor, stattfinden muss. Unsere Kontakte in Kultur und Wissenschaft, in der Zivilgesellschaft überhaupt sollten ausgebaut werden. Wir haben über 950 Universitätspartnerschaften, es gibt den Petersburger Dialog sowie ein umfangreiches kulturelles Austauschprogramm. Dennoch hat sich bei Russland in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten der Eindruck verfestigt, dass der Westen, einschließlich Deutschlands, eine antirussische Politik betreibt. Stichworte sind die NATO-Osterweiterung und die so genannten „farbigen“ Revolutionen in ehemaligen Sowjetrepubliken. Wir haben also das Phänomen der zwei Wahrnehmungen. So wird auch das Assoziierungsangebot der EU an die Ukraine als Zugriff auf das Nachbarland verstanden und der Maidan als Vorbild für die russische Opposition.

Nicht zuletzt wegen dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen hat es sich die OSZE zum Ziel gesetzt, das Gespräch zwischen dem Westen und Russland und dem Westen als eine vertrauensbildende Maßnahme wieder in Gang zu bringen. Und daran müssen sich alle beteiligen, die daran interessiert sind, dass es keinen dauerhaften Konflikt zwischen Russland und dem Westen gibt, ob Russland-Versteher oder nicht.

(Das Interview führte Hartmut Hübner/russland.RU)

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