Russland sieht den Brexit mit Gelassenheit und Hoffnung

[Hartmut Hübner] Was hat Großbritannien außerhalb der Europäischen Union davon, was es innerhalb der EU nicht bekommen kann? fragt der »Kommersant«.

„Hierauf lässt sich nach dem Referendum praktisch nichts  antworten. In ihrem jetzigen Zustand ist die EU eine Struktur, die weder eine vollwertige Konföderation mit Rechtshoheit, noch ein unitärer europäischen Staat mit gewissen „geopolitischen“ Zielen sein will. Immer mehr beschäftigt sich die EU – vom Gesichtspunkt des Nichteuropäers aus – mit geheimnisvollen und unverständlichen Sachen: vom Kampf gegen die globale Klimaerwärmung bis zum Bemühen um Gerechtigkeit für das palästinensische Volk in Israel, wohin in der nächsten Zeit unter dem Druck der europäischen Islamisten inmitten der EU noch einige Zehntausend französischer Juden fliehen werden. Der Euro, Schengen, die Freiheit der Freizügigkeit in Europa und das harmonisierte Recht des internationalen Handels werden bleiben und so ist es für Europa notwendig, Großbritannien, wie seinerzeit Russland, nach den  Normen der WTO und nicht als der Teil des Handelsblocks zu behandeln.

Seinen Status als europäisches Finanzzentrum wird London auch außerhalb der EU nicht verlieren, zumindest, weil die französische Börse eine in sich widersprüchliche Erscheinung ist, und die deutsche Börse ist nicht  daran interessiert, weil sie der deutschen Wirtschaft und niemandem sonst gehört.“

 

Die führende russische Wirtschaftszeitung Vedomosti meint, dass der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union keinen großen negativen Einfluss auf die russische Wirtschaft haben wird. „Russland könnte sogar gewinnen, denn wenn der erste Schock überwunden ist, werden die Investoren vor dem Hintergrund der Probleme Europas das Interesse für die Aktiva der sich entwickelnden Märkte erhöhen.“

 

Die regierungsnahe Zeitung Rossijskaja Gazeta schreibt: „Die Entscheidung der Mehrheit der Briten über den Austritt aus der Europäischen Union wird die Wirtschaftsaktivität auf den britischen Inseln und im kontinentalen Europa bremsen, und das könnte durch den Rückgang der Preise für die Energieträger die Stagnation in der Wirtschaft der Russischen Föderation konservieren.

Das bestätigt gegenüber der Zeitung auch der wissenschaftliche Leiter des Institutes für Wirtschaft und Korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Ruslan Grinberg. „Für den Austritt des Landes aus der EU gibt es keinen Präzedenzfall, niemand weiß, was weiter sein wird. Ängste und Panik erzeugen immer eine Lähmung der wirtschaftlichen Tätigkeit, und dies führt automatisch zum Rückgang der Nachfrage nach den Energieressourcen“, sagte Grinberg. Der Erdölpreis könnte nach seiner Einschätzung bis auf 35 Dollar je Barrel fallen, und das bedeute „einen Dollarkurs von 70 und mehr Rubeln“.

 

Die Fachzeitschrift Sberbank CIB urteilt: „Der wichtigste – und praktisch einzige – Kanal der Auswirkung des Schocks auf Russland ist, dass der Preis für das Erdöl fällt, was zur Entwertung des Rubels, dem Anwachsen des Haushaltsdefizits und der Beschleunigung der Inflation führt. Jedoch ist der Einfluss des Erdölpreises auf den Kurs und die Inflation nach dem letzten Schock vor ein paar Jahren geringer, da der Importanteil am Konsum zwischenzeitlich gesunken ist. Außerdem ist das BIP gegenüber den Preisschwankungen bei Erdöl stabiler geworden und die Wirtschaft reagiert weder auf einen Rückgang, noch auf einen Anstieg der Erdölpreise.“

 

Die unerwartete Entscheidung der Bewohner Großbritanniens, so die Iswestija, hat zu dramatischen Folgen auf den Finanzmärkten geführt. „Der Preis für das Erdöl begann heftig zu fallen, das Pfund stürzte im Vergleich zum Dollar um fast 10 % auf den niedrigsten Wert seit 1985 ab. Auch der Rubel verbilligte sich dramatisch vor dem Hintergrund der Festigung des Dollars, der als stabil angesehen wurde. Die russische Währung kam infolge des Schocks in Schlingern. Jedoch meinen einige Analysten, dass, wenn sich die ersten Emotionen gelegt haben, die russische Wirtschaft von dem Schock sogar profitieren kann.“

 

Die Nachrichtenagentur RBC kommentiert: „Der Brexit wird die Risikoanfälligkeit der Finanzmärkte der Eurozone verstärken. Die Investoren könnten den politischen Willen und die öffentliche Unterstützung des Valutablocks in Zweifel ziehen, die für seine Wiederherstellung und Erstarkung nach der Schuldenkrise notwendig sind. Die schwachen Länder der Eurozone werden unter der besonderen Beobachtung der Marktteilnehmer stehen. Es sind Portugal mit einer labilen herrschenden Koalition, das finanzielle Schwierigkeiten durchlebende Griechenland, sowie Spanien, bei dem, außer ernsten politischen Widersprüchen, das Problem der Bewegung für die Unabhängigkeit Kataloniens bestehen bleibt.“

(Hartmut Hübner/russland.news)

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