Russland hat im Baltikum und in Polen keine Expansionsabsicht

[von Rainer Simon] Andreas Zumach macht Vorschläge für eine militärische und wirtschaftliche Entspannung zwischen der Nato und Russland.

Besonders Deutschland sollte von einem Propaganda-Krieg gegen Russland absehen, sagt Andreas Zumach. Der langjährige Korrespondent bei der Uno in Genf und Spezialist für geopolitische Fragen erinnerte in einer Vortragsserie daran, dass der Feldzug Nazi-Deutschlands gegen Russland im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Russen das Leben gekostet hat. Spannungen und Kriege zwischen Berlin und Moskau hätten in den letzten Jahrhunderten auch stets grosse Teile von Eurasien destabilisiert. Daraus ergibt sich für Deutsche und Russen eine besondere gemeinsame Verantwortung, für Stabilität, Frieden und Kooperation auf dem eurasischen Kontinent zu sorgen. Und schliesslich läge Deutschland im Falle einer militärischen Auseinandersetzung im Brennpunkt eines potentiell atomaren Konfliktes.

Der Konflikt wird seit den 1990er Jahren vom Westen systematisch aufgebaut

Zumach bemängelt, dass das offizielle Narrativ der meisten westlichen Politikerinnen, Politiker und Medien über die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den NATO/EU-Mitgliedsstaaten meist erst 2014 beginnt, mit der Eskalation des Konfliktes in der Ukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland. Doch der Ursprung des Konfliktes reiche bis in die frühen 1990er Jahre zurück, also bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Ein Narrativ erst ab 2014 verzerre die Wahrnehmung extrem und münde darin, dass das Wesentliche des Konfliktes aus russischer Sicht gar nicht mehr verstanden werde.

Militärpolitische Situation

Die etappenweise Osterweiterungen der NATO von 1999, 2004, 2009, 2017, 2020 hat die Präsenz der NATO bedrohlich nahe an die russische Grenze vorgeschoben: Von den westlichen Nachbarstaaten Russlands gehören lediglich Belarus und die Ukraine noch nicht zur NATO.

Parallel dazu haben die USA wichtige Rüstungsbegrenzungsverträge gekündigt oder wie den KSE-Vertrag nie ratifiziert:

2002 den bilateralen ABM-Vertrag zwischen Washington und Moskau über die Begrenzung der Raketenabwehrsysteme; 2019 den bilateralen INF-Vertrag über die Vernichtung von landgestützten Mittelstreckenraketen; 2020 den 1992 von den Mitgliedsstaaten der KSZE vereinbarten Open Sky-Vertrag über definierte Überflugrechte über fremde Territorien zu Beobachtungszwecken – als vertrauensbildende Massnahme konzipiert; 2004-2015 der 1990 unterzeichnete KSE-Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa trat 1992 in Kraft und sollte Obergrenzen für die Zahl schwerer Waffensysteme vom Atlantik bis zum Ural festsetzen. Nach Auflösung des Warschauer Paktes, dem Zerfall der Sowjetunion und der bis dato erfolgten NATO-Erweiterung wurde der Vertrag 1999 angepasst (A-KSE) und 2004 von Russland, Belarus, Ukraine und Kasachstan ratifiziert, nicht aber von den NATO-Staaten. Daher setzte Russland 2007 die Umsetzung der Verträge aus und nahm seit 2015 auch nicht mehr an den Sitzungen der Beratungsgruppe teil, was als faktischer Austritt bewertet wurde.

Militärisch ist die NATO heute Russland gegenüber im konventionellen Bereich haushoch überlegen. Dies wird sogar von der NATO selber erklärt, obwohl bisher eine russische Überlegenheit bei konventionellen Waffen als Hauptargument für die nukleare Abschreckung des Westens galt.

Im nuklearen Bereich lässt sich ein Stärkevergleich naturgemäss nicht so einfach anstellen, weil schon wenige Atombomben über den Ausgang eines Konfliktes entscheiden können. Nach Darstellung im Jahresbericht 2021 des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts SIPRI ist die Situation im atomaren Bereich einigermassen ausgewogen – mit 6255 Sprengköpfen in Russland und 5550 in den USA und einer durch das START-Abkommen zur Begrenzung strategischer Atomwaffen genau festlegte Obergrenze für die Zahl der Trägersysteme (Interkontinentalraketen, U-Boote und Fernbomber).

Bei den Militärausgaben ist Russland den NATO-Staaten deutlich unterlegen. 2021 lag das russische Militärbudget mit umgerechnet 62 Milliarden Euro nur unwesentlich über dem von Deutschlands (wobei die Kaufkraft dieser Summe in Russland höher ist als in Deutschland). Die USA gaben rund 750 Milliarden US-Dollar aus, die 30 NATO-Staaten gesamthaft 1’103 Milliarden (oder 1,1 Billionen) Dollar.

Politisch ist Russland neben der Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien besonders durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Unterstützung der Aufständischen in der Ostukraine negativ exponiert. Die Krim-Annexion ist gemäss Zumach aus einer gewissen Notwehr erfolgt, wobei die Art und Weise auch nach Ansicht Zumachs völkerrechtswidrig gewesen sei: „Das Tüpfelchen auf dem i“ sei aber gewesen, „dass die Ukraine nach dem Sturz von Janukowytsch im Februar 2014 den Pachtvertrag für den Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte Sevastopol, der gerade erst bis 2042 verlängert worden war, per 2017 gekündigt hatte. Im gleichen Zug wurde Russisch als zweite Amtssprache in der Ukraine verboten; selbst in den Schulen und im gesamten öffentlichen Raum durfte und darf bis heute nicht mehr russisch gesprochen werden.

In der Unterstützung der Aufständischen in der Ostukraine sieht Zumach keine territoriale Expansionsabsicht – erst recht nicht gegen die baltischen Staaten oder Polen. Die Unterstellung, dass Russland in diesen Ländern Expansionsabsichten habe, hält Zumach „analytisch für völligen Quatsch“.

Innenpolitisch müsse Putin an seinem Ukraine-Kurs festhalten, weil dieser in Russland sehr populär sei. Deshalb sei ein erster Schritt der Entspannung von Seiten Russlands nicht zu erwarten. Für Zumach hat Putin mit seinem Verhalten in der Ukraine zwei nüchtern geplante Ziele erreicht:

  1. Sevastopol wurde als Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte gesichert;
  2. Die latente Unruhe in der Ostukraine sorgt dafür, dass weder NATO noch EU einen Beitritt der Ukraine in absehbarer Zeit erwägen.

Für Zumach folgt aus dieser Ausgangslage: „Den ersten Schritt muss der Stärkere, d.h. die NATO machen.“ Denn Konzessionen seitens Putins, dessen Ukraine-Politik in der russischen Bevölkerung nach wie vor grosse Unterstützung erfährt, würden innenpolitisch einen Gesichtsverlust bedeuten.

Vorschläge für eine De-Eskalation im militärischen Bereich

Zumach stellt folgende konkreten Vorschläge für eine De-Eskalation der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen im militärischen Bereich zur Diskussion:

  1. Gemeinsam: Wiederaufnahme der Gespräche über eine Revitalisierung und Anpassung des KSE-Abrüstungsvertrags;
  2. Seitens der NATO: Offizielle Rücknahme des „unseligen Beschlusses des NATO-Gipfels von 2008, der Ukraine, Georgien und Moldawien eine Option zum Beitritt in die NATO anzubieten“; (Nachtrag von Zumach am 17.1.2022: Dieser Schritt, den Zumach bereits seit 2015 in Artikeln und Vorträgen immer wieder vorgeschlagen hat, ist, nachdem Putin ihn seit Mitte Dezember 2021 öffentlich und in Form einer vertraglichen Zusicherung verlangt und damit bei US-Präsident Joe Biden sofort auf strikte Ablehnung („rote Linien“) gestossen ist, für die NATO noch viel schwieriger geworden. Auch westliche Regierungen haben Angst vor einem (vermeintlichen) Gesichtsverlust.
  3. Gemeinsam: Mässigung der beidseitigen Manöver entlang der russischen Grenze; Zumach sieht in den Manövern zwar keine ernsthafte Kriegsgefahr, doch die Manöver „könnten eines Tages ausser Kontrolle geraten“.

Zwei wichtige erste Schritte in Richtung Entspannung seien beim Gipfeltreffen von Biden und Putin Mitte Juni 2021 in Genf beschlossen worden: Erstens eine gemeinsame Erklärung, nach der bilaterale Gespräche über strategische Stabilität aufgenommen werden sollen. Zweitens eine konkrete Massnahme bezüglich Cybersicherheit: Es soll ein umfassender Katalog kritischer ziviler und militärischer Infrastrukturen erstellt werden, die bei einem allfälligen Konflikt allseitig tabu seien.

Vorschläge für eine wirtschaftliche Entspannung

Nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich wurde Russland über die letzten zwanzig Jahre stark in die Enge getrieben. Die parallel zur NATO-Erweiterung erfolgten EU-Erweiterungen 2004, 2011, 2013 auf fast alle westlich gelegenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion und die seit der Annexion der Krim verschärften Wirtschaftssanktionen der USA und der EU (keine UNO-Sanktionen!) hätten die Wirtschaft Russlands beträchtlich geschädigt. Doch ihr erklärtes Ziel, Russland zum Einlenken in der Krim-Frage zu bewegen, hätten die Sanktionen deutlich verfehlt.

Die Beilegung des Konfliktes um Nordstream II könnte dazu beitragen. Die Ablehnung dieses inzwischen fertiggestellten Projektes im Westen fusst auf ganz unterschiedlichen Beweggründen. Die Ablehnung der Grünen in Deutschland etwa basiert auf ökologischen Argumenten: Der Gebrauch fossiler Brennstoffe sollte wegen der Klimakatastrophe eingeschränkt und nicht noch gefördert werden. Diese Argumentation lässt allerdings ausser Acht, dass Russland auf die Exporte seines Gases angewiesen ist und wegen dieser Abhängigkeit auch seinen Beitrag an der Klimarettung ohne Hilfe vom Ausland nicht wird leisten können: Russland muss schrittweise ertüchtigt werden, seine Wirtschaft von der Abhängigkeit der Rohstoffexporte zu befreien und andere Wirtschaftssektoren aufzubauen, die dies ermöglichen.

Da Russland heute ohne seine Rohstoffexporte nicht überlebensfähig wäre und seine technologische und industrielle Entwicklung aufgrund der Sanktionen nicht in dem Masse weiterentwickeln konnte, seien Lockerungen der Sanktionen sowie anderweitige Wirtschaftshilfe angezeigt.

Zumach schlägt Massnahmen vor, um eine Entspannung auf dem wirtschaftlichen Gebiet zu erreichen:

  1. Seitens Russlands: Offizielle Rücknahme der Androhung Russlands von 2017 gegenüber der Ukraine, die Gaspreise um 80 Prozent zu erhöhen. Daneben verbindliche Zusage, dass ein garantiertes Gas-Kontingent weiterhin durch die ukrainischen Pipelines fliesst und der Ukraine Durchleitungsgebühren sichert. Ausserdem Abbau von Wirtschaftssanktionen gegenüber westlichen Staaten (vornehmlich deren Landwirtschaft).
  2. Seitens des Westens: Abbau anstatt Verlängerung und Verschärfung von Wirtschaftssanktionen der USA und EU gegenüber Russland.
  3. Gemeinsam: Nordstream II als fertiggestelltes Infrastrukturprojekt schrittweise alternativ nutzen, z.B. für einen Wasserstoff-Transport, wobei dieser in Russland zunächst aus fossilen und später mit Hilfe westlicher Technologien auch umweltfreundlich („grüner Wasserstoff“) gewonnen werden könnte; Untersuchungen haben gezeigt, dass notwendige technische Nachrüstungen machbar wären; Ökologischen Bedenken sollte entgegengehalten werden, dass ein übergangsloser Sprung zu ökologisch erzeugter Energie nirgendwo auf der Welt möglich sei.

Vorschläge für eine zivilgesellschaftliche und kulturelle Annäherung zu Russland

Zumach erinnert daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg diverse Aussöhnungsbemühungen zwischen Deutschland und Russland auf kulturellem Gebiet und auf zivilgesellschaftlicher Ebene unternommen wurden, die in den letzten zwanzig Jahren unter den zunehmenden Spannungen wieder stark zurückgefahren wurden.

Ein Grund ist laut Zumach, dass das systematisch gezüchtete Negativimage Putins zunehmend übertragen wird auf das russische Volk. Und im Unterbewussten vermutet Zumach vor allem bei den Älteren noch Erinnerungen an die Propaganda im Zweiten Weltkrieg, der zum Vernichtungskrieg gegen die slawischen Untermenschen erklärt worden war.

Zumachs Appell geht dahin, die zivilgesellschaftliche Ebene durch Kontakte und Austausch wieder zu beleben.

Mit freundlicher Genehmigung von Infosperber.ch>>>

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