russland.COMMUNITY: Von den stärksten Zigaretten der Welt und dunkler Vergangenheit

Sankt Petersburg ist eine Stadt der Brücken. Durchzogen von einer Vielzahl von Kanälen sind diese für das tägliche Vorankommen von unverzichtbarer Funktion. Der Himmel ist von Wolken verhangen, als meine Augen dem schnurgeraden Verlauf einer der unzähligen Wasserstraßen folgen und schließlich an der Fassade des neuen Mariinski-Theaters hängen bleiben. Sofort denke ich an die grandiose Darbietung, mit welcher Nathalie Portman den Mythos des berühmtesten Balletts der Welt auf die Kinoleinwand katapultiert. Zwar wurde Schwanensee im Mariinski nicht uraufgeführt, doch die dortige Inszenierung von 1895 gilt bis heute als maßgeblich.

Es beginnt zu regnen, als ich mich schließlich in Richtung Heumarkt weiterbewege. Auf Höhe eines unscheinbaren Kiosks sagt meine Tante Susanne plötzlich zu mir: „Dort könnte es sie geben!“ Gebannt folge ich ihr über einen steinernen Treppenabsatz in den Laden, einige für mich unverständliche Sätze in russischer Sprache folgen. Schließlich kramt die Verkäuferin drei bläuliche Zigarettenschachteln unter dem Tresen hervor. Ein Lächeln fährt über mein Gesicht. Das unverwechselbare Souvenir meiner zweiwöchigen Reise nach Sankt Petersburg ist gesichert.

Einen Abend zuvor fließt das Bier nicht zu knapp. Mit der Zeit wächst das Verlangen nach einer Zigarette, Susanne serviert L&M rot mitsamt einem angelaufenen Messingaschenbecher. Während wir genüsslich rauchen, dreht sich die Konversation um die seit Jahren steigenden Preise für Zigaretten in Russland. Ich bin begeistert von den russischen Bedingungen: Zum damaligen Zeitpunkt kostet eine Schachtel westlicher Zigaretten umgerechnet 90 Cent. Ich frage nach einheimischen Erzeugnissen, schließlich kann ich bei meiner Rückkehr nicht ohne Mitbringsel dastehen. Nach einigen Minuten berichtet Susanne von den „grässlichen Scheißdingern“, welche ein guter Freund von ihr zu rauchen pflegt.

Mein Interesse ist sofort geweckt. Die sagenumwobenen Zigaretten haben keinen Filter, so wird berichtet. Der Gehalt an Teer und Nikotin bewege sich jenseits von gut und böse. Der Legende nach hat Stalin persönlich in großer Stückzahl die Marke Belomorkanal geraucht. Was für eine geile Geschichte, denke ich. Zu meiner großen Begeisterung eröffnet mir meine Tante, dass sie noch irgendwo eine angebrochene Schachtel herumliegen hat, welche einst bei ihr vergessen wurde. Wenige Augenblicke später entzünde ich voller Neugier die teuflische Zigarette. Zwischenzeitlich haben wir recherchiert: Verglichen mit einer L&M rot enthält die Belomorkanal bei der halben Menge an Tabak das Doppelte an Nikotin und das Dreifache an Teer.

Der Geschmack ist mit „grässlich“ unzureichend beschrieben – vielmehr schmeckt das Ding nach so gut wie nichts außer verbranntem Gras. Nach einigen Zügen macht sich bei mir ein gewisser Schwindel breit, worauf ich die lodernde Glut alsbald ersticke. Mein Gegenüber führt aus: „Das sind die billigsten, die es in Russland gibt, 80 Cent die Schachtel. Diese Art mit der langen Hülse ohne Filter nennt sich Papirossa“. Im Internet finden sich einige reißerische Videos, wo sich wagemutige Hasardeure todesmutig die angeblich stärkste Zigarette der Welt zu Gemüte führen. Lächerlich, denke ich mir, so spektakulär sind die nun wirklich nicht. Mein von all dem Alkohol schon leicht verschwommener Blick fällt auf die Vorderseite der Zigarettenschachtel. Mit etwas Fantasie ist dort eine alles andere als maßstabgetreue Karte vom westlichen Teil Russlands zu erkennen, welche von überdimensional dargestellten Flüssen und Kanälen zerschnitten wird.

Ich frage nach der deutschen Übersetzung des Wortes Belomorkanal. Die legendären Zigaretten tragen den Namen des Weißmeer-Ostsee-Kanals, so wird mir eröffnet. Sofort vermute ich einen tieferen Sinn hinter dem Namen, ich denke an einige Passagen eines kürzlich gelesenen Buches. Susannes Erläuterungen enttäuschen mich nicht: „Das wird doch genau beschrieben in Der Archipel Gulag“. Ein wenig ehrfürchtig denke ich an Alexander Solschenizyns Epos, welches man nach meinem Dafürhalten problemlos zu den bedeutendsten Werken der Geschichte zählen kann.

Der 227 Km lange Weißmeer-Ostsee-Kanal besteht aus Seen und Flüssen sowie künstlichen Abschnitten, welche von 1931 bis 1933 erbaut wurden. Er ermöglicht den Transfer zu Wasser von Sankt Petersburg nach Archangelsk am Weißen Meer. Entstanden auf Anweisung Stalins im Rahmen des ersten sowjetischen Fünfjahresplans, kamen bei dem Bau mehrere Hunderttausend Zwangsarbeiter zum Einsatz, von welchen Zehntausende unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen starben. Der Bau des Kanals sollte dem wirtschaftlichen Fortschritt der Sowjetunion dienen und auf diesem Wege der Welt die Überlegenheit der marxistisch-leninistischen Ideologie vor Augen führen, der Verlust einer läppischen Zahl von Arbeitern fiel dabei nicht weiter ins Gewicht. Abgerundet wird der bahnbrechende wirtschaftliche Nutzen des Weißmeer-Ostsee-Kanals durch seine lächerlich geringe Wassertiefe von lediglich 3,60 m, wodurch er für den Güterverkehr kaum nutzbar ist und heute nur von einer Handvoll Schiffe täglich passiert wird.

Beeindruckt blicke ich auf die bläuliche Schachtel in meinen Händen. Die vermeintlich stärksten Zigaretten der Welt und zugleich Reminiszenz an eine Epoche von atemberaubend-überwältigendem Schwachsinn, deren Beginn sich im Oktober diesen Jahres zum hundertsten Mal jährt. Ich habe wahrlich schon von schlechteren Souvenirs gehört.

MJ

——————————————————————————————————————-

In eigener Sache:

russland.NEWS hat eine Rubrik. „www.russland.community„.

In dieser Rubrik geben wir Lesern und Autoren und auch Presseerklärungen über unser facebook-Diskussionsforum hinaus, die Möglichkeit Kommentare und Artikel bei uns zu veröffentlichen.

Die Kommentare und Artikel müssen nicht zwingend die Meinung der Redaktion von russland.NEWS wiedergeben. russland.NEWS setzt qualitative Ansprüche an die Beiträge und behält sich das Recht auf Kürzungen vor.

COMMENTS