russland.COMMUNITY: Im Dienste der Propaganda: Lenins Gehirn zerteilt in 30.000 Scheiben

Ob Margot Honecker jemals die weltberühmten Kreidefelsen mit eigenen Augen gesehen hat? Nach dem Untergang ihrer geliebten Republik dürfte sie sich kaum die Blöße gegeben haben, noch einmal nach Rügen zurückzukehren. An kaum einem anderen Ort in der ehemaligen DDR manifestiert sich wie unter einem Brennglas der Untergang der kommunistischen Welt.

Sitzt man heute in einem der zahlreichen Cafés an der malerischen Strandpromenade von Binz und widmet sich dabei mit einem gehörigen Augenzwinkern dem Wörterbuch des Wissenschaftlichen Kommunismus (gedruckt 1982 in Ostberlin), so bekommt man eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich bei einer solchen Aktion wohl ein ehemaliger Apparatschik der SED fühlen würde, welcher über Jahrzehnte an den Sieg des Sozialismus geglaubt hat. Auf vergilbten Papier steht unter dem Stichwort „Allgemeine Gesetzmäßigkeiten des revolutionären Prozesses, des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus“ Folgendes geschrieben: „Allgemeine, wesentliche, historisch notwendige Zusammenhänge, die die gesellschaftliche Entwicklung bei der Verwirklichung der welthistorischen Mission der Arbeiterklasse, bei der Vorbereitung und Herausbildung der kommunistischen Gesellschaftsform, charakterisieren“.

Erhebt sich anschließend der Blick über den schäbigen Einband des Buches hinaus, so fällt zunächst der vor einer Nobelboutique geparkte silbergraue Ferrari ins Auge, während weiter in der Ferne die schneeweißen Villen vornehmlich westdeutscher Millionäre über der rauschenden Ostsee thronen. Dabei hatte doch nur wenige Kilometer entfernt alles so gut begonnen: Im Fährhafen Sassnitz hatte Lenin 1917 nach seiner berühmten Zugfahrt durch das Deutsche Kaiserreich eine rostige Fähre betreten und war nach Schweden übergesetzt, um von dort weiter nach Petrograd zu reisen. Die anschließenden Ereignisse zählen zu den bedeutendsten der Weltgeschichte.

Welche Bedeutung haben große Persönlichkeiten für den Lauf eben dieser Weltgeschichte? Ohne Lenin als zentrale Identifikationsfigur hätte es die Oktoberrevolution wohl kaum gegeben. Jedoch hat er die Umstände, welche ihm zu Macht verholfen haben, nicht selbst erschaffen. Größe und Anerkennung sind nichts weiter als soziale Konstruktion. Vielmehr hat Lenin an bestehenden Pfaden angeknüpft und konnte nach den Turbulenzen der Februarrevolution den Bolschewiki zum Sieg verhelfen.

Lenin verkörpert wie kein Zweiter das monumentale Paradox aller marxistischen Bewegungen, nämlich den „Widerspruch zwischen der Annahme, bei dem Weg zu Sozialismus und Kommunismus handele es sich um einen notwendigen, durch Geschichtsgesetze determinierten Prozess, und den Eruptionen des Voluntativen, die das, was doch eigentlich zwangsläufig eintreten sollte, in einem revolutionären Kraftakt hier und jetzt in Gang setzen wollten. Lenin ist der Inbegriff dieses Widerspruchs, aber doch nur die bekannteste und wichtigste Figur unter einer Vielzahl von Vorläufern und Nachahmern. Mit dem Voluntativen aber kam die Gewalt ins Spiel, durch die das Widerständige aus dem Weg geräumt werden sollte“ (Herfried Münkler).

Als Lenin 1924 starb, wurde er wie ein Gott zu Grabe getragen. Nicht umsonst gilt der historische Materialismus als politische Religion. Neben den bereits erwähnten Gesetzmäßigkeiten der Geschichte spielen auch eschatologische Motive eine gewichtige Rolle: Die „Rückkehr nach Hause“, welche stets als zentrales Narrativ diente, stand für nichts weniger als die Erlösung der Menschheit. Im Kommunismus sollten die Menschen wieder so „frei“ leben wie einst im Urzustand – welchen es nie gegeben hat. Selbstredend suchten die sowjetischen Machthaber nach Belegen für Lenins Genialität und erdachten zu diesem Zweck einen makabren Plan. Dazu der SPIEGEL: „Die besondere Aufmerksamkeit […] galt Lenins Gehirn. Ärzte hatten es dem Körper nach seinem Tod am 21. Januar 1924 entnommen. Im Sinne des nun staatstragenden Lenin-Kults erklärte die Partei den Revolutionsführer zum Genie. Wissenschaftler erhielten die Aufgabe, die „materielle Basis des unsterblichen Genies“ nachträglich zu beweisen“.

Hat man das Wörterbuch des Wissenschaftlichen Kommunismus schließlich beiseite gelegt, so bietet sich ein Ausflug nach Mukran an, welches von Binz nur wenige Autominuten entfernt liegt. Zu Tausenden türmen sich dort die dunkelgrauen Stahlröhren, welche in den nächsten Jahren zu der Pipeline North Stream 2 zusammengefügt werden sollen. Von Mukran aus wurden nach der Wiedervereinigung die noch in Deutschland stationierten russischen Truppen außer Landes gebracht. Der dortige Fährhafen wurde 1986 eröffnet und wurde zwecks des Güterverkehrs mit der Sowjetunion mit entsprechenden Breitspurgleisen ausgestattet. Heute ist er ein stiller Zeuge dafür, dass Moskaus Einflussbereich seit Ende des Ostblocks um etwa 2.000 Km zurückgegangen ist. An einem leerstehenden Gebäude auf dem weitläufigen Gelände des zugehörigen Güterbahnhofs prangen noch Hammer und Zirkel als Insignien eines untergegangenen Staates. Auffällig ist die außergewöhnlich große  Käferpopulation zwischen den zahlreichen Bahngleisen, Weichen und Lichtmasten.

Wer schon einen Maikäfer für eine imposante Erscheinung hält, dem sei die Lektüre von Ernst Jüngers berühmtem Käferbuch ans Herz gelegt. Meisterhafte Formulierungen lassen den Leser in Subtile Jagden in die schier unendliche Welt der kleinen Krabbeltiere eintauchen. Auf der Suche nach immer neuen Sammlerstücken verschlug es Jünger kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in den Schwarzwald, um dort den weltberühmten Hirnforscher Oskar Vogt aufzusuchen. Von seinem Bekannten Dr. Backhaus hatte er den Hinweis bekommen, dass Professor Vogt auf dem Dachboden seines Instituts für Hirnforschung eine veritable „Schatzgrotte“ hüte: „Ich ließ mich also anmelden, setzte mich in Überlingen auf die Bahn und kam in Neustadt gerade zum Tee zurecht, bei dem ich den Professor, seine Gattin und Mitarbeiterin Cecile, Doktor Backhaus und Madame Forel, die Witwe des Zürcher Psychologen und großen Kenners der Ameisen, versammelt fand“.

Vogt war seit 1915 der Leiter des neugegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung in Berlin. 1925 reiste er schließlich im Auftrag der sowjetischen Regierung nach Moskau und bezog dort ein nobles Palais unweit des Roten Platzes, welches fortan als sein Institut fungierte. In mehr als einjähriger Arbeit wurde Lenins Gehirn dort in 30.933 jeweils 20 Mikrometer starke Segmente zerlegt, jeweils in Paraffin eingehegt und penibel beschriftet. Die Prawda ergab sich in wahren Elogen ob des Professors Befund, welcher „ein bedeutender Beitrag zur materialistischen Erklärung des Psychischen überhaupt“ sei. Unter dem Mikroskop stieß Vogt auf „auffallend große und besonders zahlreiche Pyramidenzellen in der III. Schicht, wie der Athlet durch eine besonders stark entwickelte Muskulatur charakterisiert ist“. Lenin sei ein Meister des verknüpfenden Denkens gewesen, ein wahrer Assoziationsathlet.

Schon damals war fraglich, ob überhaupt ein Zusammenhang zwischen Intellekt und Pyramidenzellen besteht – heute gilt diese Annahme als widerlegt. Das menschliche Bewusstsein ist nun einmal nicht materieller Natur und wohnt dem menschlichen Gehirn an keinem bestimmten Ort inne. Gemeinhin wird postuliert, dass der Geist ohne Körper nicht leben kann. Sollte dies doch möglich sein, so wird Lenin nach seinem Tod alsbald festgestellt haben, dass er tot ist.

Überhaupt hat Vogt eindeutig Wissenschaft im Dienste der Politik betreiben: Das vermehrte Aufkommen der Pyramidenzellen als „Beweis“ für „Genialität“ ist nichts weiter als eine Hypothese. Spätestens das Auftreten eines „Schwachsinnigen“ mit einer vergleichbaren Wohlgestalt der Pyramidenzellen wie bei Lenin hätte den vermeintlichen Beweis mit Anlauf zu Klump geschlagen. Angenommen, bei Trotzki wären ähnliche Hirnstrukturen wie bei Lenin aufgetreten – wäre dies von den Kremlherren ebenfalls propagandistisch ausgeschachtet worden? Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hat Vogt seine Lobgesänge auf Lenins Genie keinesfalls verstummen lassen – im Kombination mit seiner liberalen Haltung gegenüber Kommunisten und Juden führte dies 1937 zu seiner Proskription. Verbittert zog sich der berühmte Hirnforscher in den Schwarzwald zurück und widmete sich der Arbeit an seinem dortigen Institut und seiner Käfersammlung.

Nachdem Vogt im Rahmen von Jüngers Besuch diesem den Unmut über seine erzwungene Demission kundgetan hatte, urteilt der berühmte Schriftsteller gewohnt scharfsinnig: „Darin, dass sein Sektionsbefund nur für Idioten ein Politikum darstelle, konnte ich ihm nie ganz beipflichten. Wäre es andersherum gekommen, so würde den Professor der entsprechende Beifall kaum erstaunt haben. In dieser Hinsicht war er naiv wie die meisten Gelehrten“. Die Neue Zürcher Zeitung sekundiert und paraphrasiert den Berliner Wissenschaftshistoriker Michael Hagner dergestalt, dass „die Rückschlüsse der Forscher seit je stark geprägt waren von ihren politischen und kulturellen Vorurteilen. Die Erwartungshaltung diktierte, was in den Hirnmassen entdeckt wurde. Und so wurde trotz Misserfolg weiter obsessiv im Dunkeln gestochert, mit leicht modifizierter Methodik und dem unerschütterlichen Glauben, sogleich den Schlüssel zum Verständnis des Menschen zu finden“.

[Julian Müller/russland.COMMUNITY]

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