russland.COMMUNITY: Getreideernte im Winter und ein Koffer voll Wehrmachtspistolen

russland.COMMUNITY: Getreideernte im Winter und ein Koffer voll Wehrmachtspistolen

[Von Julian Müller] Die Belomorkanal qualmte, als meine Tante plötzlich von ihrer Reise mit der DKP in die DDR zu erzählen begann. Meine Aufmerksamkeit war geweckt, für Geschichten über verkrachte Kommunisten bin ich stets zu haben. Ich wusste, dass mein Gegenüber 1980 aufs Entsetzlichste gegen Strauß agitiert hatte, doch von einer (wenn auch nur wenige Monate währenden) Mitgliedschaft in der einzig ernstzunehmenden Partei links der SPD war mir nichts bekannt. Nachdem der Bus die deutsch-deutsche Grenze überquert hatte, erging an den Busfahrer der Befehl, sein Gefährt umgehend anzuhalten. Eine Kommunistin stieg aus, riss die Arme in den realsozialistischen Himmel und schrie aus voller Kehle „Endlich in Freiheit“.

Ich bin nicht kompetent genug, um zu erklären, was im Kopf einer solchen Person vor sich geht. Was ich jedoch halbwegs darlegen kann, ist die Rezeptionsgeschichte von Alexander Solschenizyns Jahrhundertwerk „Der Archipel Gulag“. 1973 in Paris erschienen, sorgte das Buch für ein Beben innerhalb der westeuropäischen Linken, insbesondere in Frankreich. In der dortigen KP lungerten zu jener Zeit noch jede Menge Stalinisten herum, auch unter französischen Intellektuellen war diese andernorts längst ausgestorbene Spezies noch vorzufinden. Solschenizyns Buch führte dazu, dass sich viele dieser Leute durch Gebrauch ihres gesunden Menschenverstandes von besagter Strömung abwandten, doch einige Unbelehrbare gibt es immer: Je stärker das eigene Weltbild und die damit verbundenen Dogmen desavouiert werden, desto stärker klammern sich an Realitätsverlust leidende Betonköpfe daran fest. Vermutlich wurde in derartigen Gefilden schon Stalins Tod im Jahr 1953 mit sintflutartigen Tränenbächen begleitet. Nun hielt man Solschenizyns monumentale Abhandlung für ein Produkt westlicher Propaganda.

„Freiheit statt Sozialismus“ hatten CDU und CSU im Bundestagswahlkampf 1976 plakatiert und damit Linke jeglicher Ausprägung in einen Topf geworfen, von Sozialdemokraten über (Real)sozialisten bis hin zu Anarchisten und (Sowjet)kommunisten. Früher hätte ich eine solche Losung ohne das geringste Maß an Reflexion unterschrieben, doch gerade als ehemaliger Ronald-Reagan-Fanboy muss man an dieser Stelle fair sein: Der Sozialismus sowjetischer Couleur erfreute sich im Westen nur in kleinen Zirkeln der politischen Linken großer Beliebtheit. So schlug etwa auch die französische KP ab Mitte der 70er Jahre einen eurokommunistischen Kurs ein und wurde nach dem Wahlsieg von François Mitterrand 1981 an der Regierung beteiligt. Vorbei war es mit der Diktatur des Proletariats und dem Demokratischen Zentralismus, vielmehr erfolgte ein Bekenntnis zu Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit.

Zurück zu Stalin und der reinen Lehre, welche frei von solch eklatantem Verrat am Marxismus-Leninismus ist. Über Stunden muss sich Stalins Todeskampf hingezogen haben, kein Leibwächter traute sich in die Gemächer des Tyrannen. Schon dumm, wenn die minimalste Ruhestörung mit Erschießung geahndet wird. Vorausgesetzt, dass dies noch möglich war – was mag Stalin in seinen letzten Stunden durch den Kopf gegangen sein? Vielleicht, dass er sich bei den Sauforgien im Kreml etwas beim georgischen Wein hätte zurückhalten sollen? Oder, dass er weniger Belomorkanal hätte rauchen sollen? Oder gar, dass der Belomorkanal, welcher diesen grässlichen Zigaretten ihren Namen gegeben hat, ein Schwachsinnsprojekt war? Zehntausende tote Zwangsarbeiter und dann nur 3,5 Meter Wassertiefe, also wirtschaftlich völlig nutzlos.

Stalin schickt seinen besten Mann

Es ist nicht frei von Ironie, dass all die fähigen jüdischen Ärzte, welche Stalin jetzt möglicherweise hätten helfen können, wegen einer der üblichen paranoiden Launen des Diktators im Gulag saßen. Diese Paranoia zeigte sich auch wenige Monate nach dem sowjetischen Einmarsch in Polen, als im März 1940 auf Beschluss des Politbüros an fünf verschiedenen Orten etwa 22.000 polnische Kriegsgefangene erschossen wurden. Allein in Katyn, welches dem Massaker seinen Namen verliehen hat, fielen 4.400 Menschen den Mordbrennern des NKWD zum Opfer. Einige Wochen zuvor musste der Mann dran glauben, welcher jene berüchtigte Organisation von 1936 bis 1938 geführt hatte, die im Zuge des Großen Terrors mindestens 800.000 Todesopfer zu verantworten hatte. Nun war der Plan, Nikolai Jeschow als Sündenbock für derlei Taten heranzuziehen. Kurz nachdem er die Worte „Sagt Stalin, ich sterbe mit seinem Namen auf meinen Lippen“ in seinen Abschiedsbrief gekritzelt hatte, wurde ihm im Keller unter seinem ehemaligen Büro von Stalins Lieblingshenker Wassili Blochin das Gehirn perforiert. In Moskau war die Arbeit vorerst getan, von nun an wurden Blochins herausragende Fähigkeiten in Kalinin gebraucht, einem Kaff unweit von Katyn.

Selbstverständlich hat sich ein passionierter Oberkiller wie Blochin nicht mit sowjetischem Schrott rumgeschlagen, bei dem ständig Ladehemmung auftritt. Es musste schon deutsche Wertarbeit aus den Beständen der Wehrmacht sein. Eine ganze Kofferladung Pistolen der Firma Walther schleppte Blochin mit zum Ort seines Schaffens, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren. Die selbstgesteckten Ziele waren hoch: 300 Seelen wollte der Meister pro Nacht auslöschen, später reduzierte er deren Zahl auf 250. Mit auf den Rücken gefesselten Händen wurden die „konterrevolutionären Aktivisten“ (Lawrenti Beria) einer nach dem anderen in eine schalldichte Baracke geführt, in der Mitte befand sich ein Abfluss für das Blut der Delinquenten. Blochin legte seine Arbeitskleidung an, bestehend aus brauner Lederkappe, langer brauner Lederschürze sowie braunen Lederhandschuhen mit Stulpen, die bis über die Ellbogen reichten. Getötet wurde im Minutentakt per Genickschuss: „Am Ende waren wir immer voller Blut, wir wischten uns die Hände an den eigenen Haaren ab. Unsere Arbeit war kein Zuckerschlecken, wenn einer nicht gleich tot war, fiel er um und quiekte wie ein Schwein, spuckte Blut, Gebrüll und Fluchen auf beiden Seiten. Essen durfte man vorher nicht. Am Ende der Schicht brachte man uns zwei Eimer – einen voll mit Wodka und einen voll mit Kölnischwasser. Mit dem Kölnischwasser wuschen wir den ganzen Oberkörper. Blut hat einen intensiven Geruch. Ich hatte einen Schäferhund, der ging mir immer aus dem Weg, wenn ich von der Arbeit kam“. (Jörg Baberowski: Verbrannte Erde)

Schließlich traten Blochin und seine Schergen nach einem Monat voller Abzugplaisir die Rückreise nach Moskau an. Der neue NKWD-Chef Beria wollte Blochin zum Dank für dessen aufopferungsvolles Schaffen auf eine jener berüchtigten Todeslisten setzen, doch Stalin höchstpersönlich verhinderte dies. Nachdem Stalin schließlich den Löffel abgegeben hatte, drängte Beria ein wenig zu eifrig auf dessen Nachfolge und wurde dafür im Dezember 1953 von den übrigen Mitgliedern des Politbüros an die Wand gestellt. Man kann durchaus bewundern, wie sich der stählerne Tyrann aus Georgien von 1927 bis zu seinem Tod an der Spitze der sowjetischen Pyramide halten konnte. Meisterhaft verstand er es, Konkurrenten gegeneinander auszuspielen und alle möglichen Leute dazu zu bringen, um seine Gunst zu buhlen. Manch einer hätte in diesem Zusammenhang gewiss auch gesagt, dass die Sonne im Westen aufgeht, wenn Stalin dies hätte hören wollen. Intellekt und damit einhergehendes Wissen sind nun einmal keine Voraussetzungen für sozialen Status.

Lyssenko hat einen Geistesblitz

Die Differenz zwischen Natur und Kultur zählt zu den bedeutendsten Themen, mit welchen sich die Wissenschaft beschäftigen kann: Ist menschliches Verhalten genetisch veranlagt oder Ergebnis kultureller Prägung? Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass diese Grenze weit weniger statisch verläuft – vielmehr schreiben sich kulturelle Erfahrungen mit der Zeit in das menschliche Erbgut ein. Ließe sich diese These bestätigen, so wäre dies der ultimative Schlag gegen die Idee, einen Bruch der Geschichte herbeizuführen, welche zentral für revolutionäres Denken ist. Der gemeine Marxist denkt nun einmal alles von den gesellschaftlichen Verhältnissen her, wo doch das Sein das Bewusstsein bestimmt. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Fast selbstredend, dass gemäß der zu Zeiten Stalins aktuellen marxistischen Auffassung die genetischen Einflüsse auf die menschliche Entwicklung für minimal erachtet wurden. Eine solche Ideologie schafft beinahe zwangsläufig ihre Verblendungszusammenhänge, welche die Besitzer der Wahrheit doch eigentlich überwinden wollten.

Die infolge hirnverbrannter Maßnahmen zur Unterstützung der sowjetischen Landwirtschaft herbeigeführte Austrocknung des Aralsees ist eine der größten Umweltkatastrophen der Welt, welche im Westen jedoch kaum beachtet wird. Ebenfalls weitgehend unbekannt, aber dennoch gleichermaßen erzählenswert wie erkenntnisreich sind die Vorgänge, mit welchen das ZK der KPdSU im Jahr 1931 die angebauten Getreidearten zu größerer Blüte führen wollte. Einige Jahre dümpelte das noble Vorhaben vor sich hin, bis 1936 auf der Konferenz der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften ein wahres Genie die Bühne betrat: Trofim Lyssenko verkündete in bester Greta-Thunberg-Manier, die postulierten Ziele unter Zuhilfenahme „unkonventioneller Methoden“ in aller Kürze der Zeit erreichen zu können. Der Agrarwissenschaftler vertrat die Auffassung, dass die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen einzig durch Umwelteinflüsse und nicht durch Gene bestimmt würden – folglich ließe sich Getreide auch im Winter anbauen und ernten. Schon zum damaligen Stand der Wissenschaft war diese These nichts weiter als absoluter Schwachsinn, doch Stalin fand schnell Gefallen an Lyssenkos Gedanken, die Existenz von Genen als unsozialistisch und dementsprechend falsch zu negieren.

Ein Grund für diese Anerkennung bestand in der Herkunft des Scharlatans, entstammte Lyssenko doch einer Bauernfamilie. Arbeiter und Bauern galten als jene Übermenschen, welche die verhasste Bourgeoisie bezwungen hatten, wohingegen das Gros der damaligen sowjetischen Biologen genau diesem Milieu entstammte. Folglich wurde Lyssenko von der Propaganda günstig aufgenommen, welche Erfolgsgeschichten einfacher Bauern gierig wie ein Schwamm in sich aufzusaugen pflegte. Erfolge wurden gnadenlos überhöht, Misserfolge fielen dem Mantel des Schweigens zum Opfer. Seinen zweifelhaften Ruhm nutze Lyssenko, um das dumme Zeug aus seiner Feder unters Volk zu bringen und die Verfechter der Genetik mit Dreck zu bewerfen. Die Genetik wurde fortan als „faschistische und bourgeoise Wissenschaft“ bezeichnet, diverse Genetiker zahlten den höchsten Preis für ihre Suche nach Erkenntnis.

So wurden während des Großen Terrors Wissenschaftler wie Solomon Levit, Isaak Agol oder Georgi Nadson wegen der Kollaboration mit „Feinden des Volkes“ einkassiert und erschossen, andere verloren durch Rufschädigung ihre Positionen. Nikolai Kolzow hielt etwas länger durch und wurde 1940 vergiftet, sein Kollege Nikolai Wadilow fiel im selben Jahr eine jener berühmten Verhaftungen zum Opfer und verendete drei Jahre später im Gulag. Lyssenko dagegen wurde von Stalin zu dessen persönlichem Landwirtschaftsberater ernannt, die paar Missernten als Folge seiner Experimente schob man faschistischen Saboteuren in die Schuhe. Sogar den Tod des Tyrannen hat er überdauert, erst nach Chruschtschows Sturz im Jahr im Jahr 1964 wurden seine haarsträubenden Irrlehren als solche benannt und entsprechend desavouiert. In den Jahren zuvor waren Lyssenkos Ideen in Rotchina auf fruchtbaren Boden gefallen, wo Mao im Zuge des Großen Sprungs nach vorn deren Umsetzung befahl. Nicht zuletzt wegen Lyssenkos Schaffen fielen etwa 50 Millionen Menschen der größten Hungerkatastrophe aller Zeiten zum Opfer. Doch das ist eine andere Geschichte.

——————————————————————————————————————-

In eigener Sache:

russland.NEWS hat eine Rubrik: www.russland.COMMUNITY

In dieser Rubrik geben wir Lesern und Autoren über unser Facebook-Forum hinaus die Möglichkeit, Kommentare und Artikel bei uns zu veröffentlichen.

Die Kommentare und Artikel müssen nicht zwingend die Meinung der Redaktion von russland.NEWS wiedergeben. russland.NEWS setzt qualitative Ansprüche an die Beiträge und behält sich das Recht auf Kürzungen vor.

COMMENTS