„Russland braucht ein System psychologischer Hilfe“: Soziologen über den psychischen Zustand der Russen© russland.news

„Russland braucht ein System psychologischer Hilfe“: Soziologen über den psychischen Zustand der Russen

In Moskau fand die Internationale Soziologische Gruschinsky-Konferenz statt. Die Soziologen suchten unter anderem nach einer Antwort auf die Frage, ob sich in der russischen Gesellschaft nach zwei Jahren Krieg eine „neue Normalität“ herausgebildet hat, und wenn ja, worin sie besteht.

In der Diskussion über den mentalen Zustand der Russen betonten die Experten, dass die Mehrheit unter nervlichen und psychischen Problemen leide. Laut Larissa Pautowa von der Stiftung für Öffentliche Meinung (FOM) ist der Anteil der besorgten und gelassenen Menschen in der russischen Bevölkerung etwa gleich groß – jeweils rund 45 Prozent. Der Höhepunkt der Besorgnis lag bei 60 Prozent zu Beginn des und bei 56 Prozent zu Beginn der Mobilmachung im Herbst 2022. Die Soziologen präsentierten auch indirekte Daten über die Zunahme psychischer Belastungen:

– Zunahme des Alkoholkonsums

– Zunahme des Konsums von Süßigkeiten

– Zunahme des Verkaufs von Antidepressiva.

„Die Russen sind besorgt, dass sie nichts planen können. Die Sorge um die psychische Gesundheit ist eine Voraussetzung für das Leben in einer neuen Umgebung“, so Pautowa.

Professor Wadim Radajew von der Higher School of Economics nannte folgende Zahlen: Im Jahr 2022 nahmen 14,5 Prozent der Bevölkerung Antidepressiva ein. Seitdem ist ihr Absatz kontinuierlich gestiegen. Der Wissenschaftler erläuterte auch einen der Gründe für den Anstieg des Verbrauchs im vergangenen Jahr: Es handele sich um emotional aufgeladenen Konsum oder eine Reaktion auf einen Mangel an institutionellem Vertrauen.

Nach Ansicht von Professor Timofej Nestik vom Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften RAN, ist in Russland mit einem Anstieg der Zahl von Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu rechnen. Viele Daten zeigen, dass 22 Prozent der Bewohner von Regionen, die von Kriegshandlungen betroffen waren, innerhalb von 10 Jahren an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden. „Unser Institut hat diese Daten nach dem Ende der Kriegshandlungen in Tschetschenien bestätigt – dort litten 23 Prozent der Bevölkerung an PTBS. Man muss alsoauch jetzt mit einem solchen Anteil von Menschen rechnen. In Russland muss ein System der psychologischen Massenhilfe geschaffen werden“.

 Die Ereignisse in der Ukraine haben die russische Gesellschaft schockiert: „Niemand hat mit einem so langen Lauf gerechnet“, meint Ruslan Puchow, Direktor des Moskauer Zentrums für strategische und technologische Analyse.Russland sei eine entmilitarisierte Gesellschaft, für die Krieg eine Anomalie sei.

Gleichzeitig seien die Menschen außerhalb der Kriegsgebiete von den Problemen des Krieges weit entfernt. Laut Nestik suchen nur 10 Prozent der Russen im Internet nach schlechten Nachrichten. Es zeige sich also, dass über 90 Prozent der Russen einfach „ihr Leben leben“. Nestik stellte fest, dass die Selbstzensur in Russland zunimmt und dass das Verschweigen aller mit dem Krieg verbundenen Probleme das psychoemotionale Wohlbefinden der Russen verschlechtert.

 [hrsg/russland.NEWS]

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