Während Europa und die Vereinigten Staaten die Grenzkontrollen intensivieren, ermuntert Moskau ehemalige sowjetische Staaten dazu, Arbeitskräfte nach Russland ziehen zu lassen. Besonders im rechten Lager Europas wird die Flüchtlingskrise zum Wiederaufleben der Isolationspolitik und Fremdenfeindlichkeit genutzt. In Russland, drittgrößte Destination für internationale Einwanderer, geht man mit dem Problem anders um.
Wie in jedem entwickelten Land arbeiten in Russland viele Zuwanderer. Gemäß den UN gibt es 11 Millionen Ausländer, viele ohne Visa und größtenteils aus moslemischen, zentralasiatischen Ländern. Die russische Regierung weiß, dass ein Aufschwung der heimischen Wirtschaft nur mit eingewanderten Arbeitskräften zu bewerkstelligen ist. “Wir brauchen dringend preiswerte Arbeitskräfte, die innerhalb des Landes nicht gefunden werden können”, erklärt Andrej Mowtschan, Wirtschaftsexperte am Moskauer Carnegie Zentrum. Einwanderer reinigen Straßen und ziehen riesige Wohngebäude hoch. Sie spielen eine Schlüsselrolle in den Fabriken, dem Einzelhandel und bei Dienstleistungen sowieso. Ohne das Küchenpersonal aus Ländern wie Kirgisistan, Tadschikistan und Georgien liefe in der Gastronomie wenig. Mowtschan warnt eindringlich, „wenn sie die Arbeitsimmigranten vom Markt nehmen – 15 Prozent aller Werktätigen in Russland – wird es unmöglich sein, sie zu ersetzen“.
Der Niedergang der Ölpreise und die nach der Ukrainekrise 2014 gegen Russland vom Westen verhängten Sanktionen, lösten eine Abwanderungswelle aus. Der Zuzug von Usbeken fiel um 21 Prozent, der von Tadschiken um 11 Prozent und Kirgisen kamen fünf Prozent weniger. Inzwischen, Russlands Wirtschaftsdaten und Prognosen verbreiten Optimismus, nimmt die Zuwanderung wieder zu. Waren es im Jahr 2015 noch161.000 Ausländer, die nach Russland kamen, wuchs laut offiziellen Quellen die Zahl 2016 auf 196.000 Immigranten. Die Regierung gab im Februar bekannt, dass 200.000 vorher abgeschobene Tadschiken wieder zurück nach Russland kommen könnten.
Moskau weiß, dass Immigranten Ängste in der Bevölkerung wachrufen. Ängste vor Terroristen, die unkontrolliert mitreisen könnten. Wie anders Russland tickt, sieht man an einer Äußerung Putins vom letzten Monat. Mit schonungsloser Offenheit präsentierte er seinem Land brisante Zahlen – nicht weniger als 5.000 Menschen aus Russland und den GUS-Staaten haben sich dem islamischen Staat in Syrien angeschlossen. Sicherheitskräfte haben 2016 zwei Gruppen von Einwanderern verhaftet, die verdächtigt wurden, Anschläge auf russischen Boden zu planen. In europäischen Sicherheitskreisen müssen Schätzungen darüber existieren, wie viel potentielle Schläfer in den letzten Jahren eingesickert sind und wie viele Rückkehrer aus Syrien man in den nächsten Jahren erwartet. Eine Frau Merkel zum Beispiel, diese Zahlen der Nation verkündend – undenkbar.
Ildar Gilmutdinow von der Regierungspartei ‚Einiges Russland’ weist die Sorgen zurück, dass die lockeren Einwanderungsbedingungen zu einer vergrößerten Terrordrohung führen könnten: „Das aktuelle Visaregime garantiert einen ziemlich hohen Grad der Sicherheit.” Vor dem Konflikt mit der Ukraine hat ungefähr die Hälfte der Russen gemeint, sie wollen die Einwanderung aus dem Kaukasus und Zentralasien einschränken. Laut Lewada-Zentrum unterstützen heute 66 Prozent eine bessere Kontrolle der Zuwanderer. Die Regierungspartei sieht das laut Gilmutdinow anders. Die visafreie Regelung mit postsowjetischen Ländern sei “Russlands strategische Wahl”.
Das Potential zur Politisierung der Einwanderungsfrage hat auch die russische Opposition erkannt. Dem Populismus gegen Immigranten frönen zuallererst die Kommunisten. Walery Raschkin, Duma-Experte bei der Einwanderungsgesetzgebung, behauptet, dass Russland mit schlecht qualifizierten Arbeitern “überschwemmt wird” und russischen Staatsangehörigen die Jobs gestohlen werden. In diesem Sinne befürwortet Raschkin strenge Visaregelungen für zentralasiatische Länder.
Sich zum radikalen Nationalismus bekennende Russen, seit 2012 mit den Protesten gegen die Regierung Teil der Opposition, ergriffen Partei für die Ukraine, worauf der Kreml scharf reagierte. Viele Ultranationalisten flohen in die Ukraine, wo einige gegen russische Soldaten und pro-russische Ukrainer im Osten gekämpft haben. Auch diese Gruppierungen bekämpfen die Visum-Freiheit mit Kirgisistan, Kasachstan und Armenien.
Ebenso hat der neue Kopf der Anti-Putin-Bewegung, Alexey Navalny, begriffen, dass man nur mit nationalistischen Ausländerproblemen einen Keil zwischen Putin und Volk treiben kann. Seine Forderungen nach neuen Visum-Gesetzen sind zentraler Teil seiner politischen Agenda. Berüchtigt ist sein Video, in dem er Terroristen mit Kakerlaken vergleicht, die anders als die Schabe nicht mit einer Fliegenklatsche oder einem Pantoffel, sondern nur mit einer Pistole zu bekämpfen seien. Nicht minder abwegig sein Vorschlag, „zersetzende Elemente“ deportieren zu lassen.
Verdrehte Welten in Ost und West. Putin steht vor einer Opposition, deren gemeinsamer Nenner aus Ausländerfeindlichkeit besteht und damit dem islamischen Extremismus in die Hände spielt. Ein Spiel mit dem Feuer bei ungefähr 9.4 Millionen in Russland lebenden Moslems – 6.5 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Die Situation plakativ beschreibend hieß es jüngst im Titel eines Editorials der Nesawissimaja Gaseta: Trump und Le Pen gehören in Russland zur Opposition.
[hub/russland.news] inspiriert durch einen bei der Nachrichtenagentur Bloomberg erschienenen Artikel von Leonid Ragozin
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