Russisches Leben – 16. Moskau und viel Merkwürdiges

Russisches Leben – 16. Moskau und viel Merkwürdiges

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Erscheinungsjahr: 1855

Themenbereiche Reisen  Architektur & Baukunst  Russland Enthaltene Themen: Russland, Russen, Moskau, Stadtgeschichte, Denkmale, Zarenglocke, Kremel, Bauwerke, Holzhäuser, Feuersbrünste, Stadtbrände, Napoleon

Da ich mich in Twer recht umsehen wollte, ließ ich mich hier über die Wolga setzen. Dieser größte Fluss in Europa entspringt auf der Waldai-Höhe aus dem kleinen See Stersch, an den Grenzen der beiden Gouvernements Twer und Nowgorod und ergießt sich, nach einem Laufe von fast 500 Meilen in vielen Mündungen ins kaspische Meer.

An das jenseitige Ufer gekommen und einige Schritte vorwärts getan, gewahrte ich hier eine Menge Volkes aus der untersten Schichte der Gesellschaft, welches einige Unglückliche zwischen hatten und auf das Schauderhaftete misshandelte. Ich konnte den Unglücklichen nicht beistehen, und eilte daher augenblicklich in meinen Nachen zurück, der zum Glücke noch am Ufer hielt, und ließ mich eiligst wieder auf die andere Seite fahren. Hier erfuhr ich nun, dass drüben die Cholera schrecklich wütete. Ich eilte zur Stadt hinaus, ohne mich um die Ursache der Wut des Pöbels zu erkundigen. Endlich kam ich am 11. Tage meiner Reise in Moskau an. Gnädiger Himmel! wie schlug mein Herz vor Freude und Hoffnung, als ich durch das Tor dieser Stadt eingegangen war! Hier fand ich meinen Freund, der mich liebt, wie ich geliebt sein mag. Mit Freude nahm er mich in seinem Hause auf, wo ich mich einige Wochen lang von meinen mühseligen Strapazen erholte.

Und so wären wir denn in Moskau, in der alten Zaren- und Bojaren-, in der heiligen russischen Stadt, vor der jeder rechtgläubige Christ, der Bauer, der Fuhrmann, der Kaufmann, ja, auch wohl der Edelmann den Hut zieht und sich dreimal bekreuzt, sobald er ihrer Türme in der Ferne ansichtig wird, was er dann wiederholt, wenn er an einem der Tore angelangt ist und in die Stadt eingeht oder einfährt. Welche geschichtlichen Erinnerungen knüpfen sich an diesen Ort! Neuere Chronisten nennen Moskau das dritte Rom und behaupten, dass es nie ein viertes geben könnte. Karamfin bemerkt: Nowgorod ist die Wiege der russischen Monarchie, Kiew die Wiege des Christentums in Russland; aber in Moskau wurde der Glaube und das russische Vaterland gerettet.

Rurik machte Nowgorod zur russischen Residenz, Oleg aber Kiew, Andreas, die Stadt Wladimir, Georg Moskau, Peter der Große aber St. Petersburg. Russlands Fürsten, und Kaiser hatten also fünf Residenzstädten gehabt, von denen die drei ersteren zu Gouvernementsstädten herab gesunken sind. Allerdings hatte von den Teilfürsten, da sie sich als Souveräne betrachteten, jeder seine eigene Residenz, und in sofern gab es eine Menge von Hoflagern zu gleicher Zeit, in 12 Jahrhundert über siebzig. Der Titel, den Wassilij Wassilijewitsch (1505–1534) führte, nachdem sein Vater Johann III. alle diese Fürstentümer unter die moskowitsche Herrschaft gebracht hatte, ist bezeichnend. Für Russland nannte er sich in dieser Hinsicht, wie sein Vater, nur Großfürst; in Beziehung auf auswärtige Reiche aber führte er folgenden Titel. „Der großmächtige Herr Wassilij, von Gottes Gnaden Zar und Beherrscher von ganz Russland, und Großfürst von Wladimir, Moskau, Nowgorod, Pskow, Smolensk, Twer, Jugrien, Perm, Wjätka, Bulgarien und andern; Beherrscher und Großfürst vom Nowgorod – Nisow’schen Lande, von Tschernigow und Rjäsan, von Wololezk, Rschew, Bjelsk, Rostow, Jaroslaw, Bjelosersk, Udorien, Obdorien, Kondinien, c. c. c. Lauter Fürstentümer über die er herrschte!

Es ist zu bedauern, sagt Karamsin, dass die gleichzeitigen Annalisten den für Moskau denkwürdigen Beginn dieser Stadt zu bezeichnen unterließen, wahrscheinlich, weil sie nicht voraussehen konnten, dass ein so kleines im entfernten susdalischen Land gelegenes Städtchen mit der Zeit die Hauptstadt des ausgedehntesten Reiches der Welt werden sollte. Das susdalische Fürstentum bestand aus den heutigen Gouvernements: Jaroslaw, Kostroma, Wladimir, Moskau und einem Teile von Nowgorod, Kaluga und Twer.

Zum Glück aber weiß man doch wenigstens, dass Moskau im Jahre 1147 vorhanden war. Alles andere aber, was man sonst über die Gründung dieser Stadt sagt, ist, nach Karamsin, ganz unzuverlässig. Im Jahre 1367 wurde hier der erste fürstliche Palast aus Stein gebaut. Es war eine alte Sitte der Russen, nicht nur alle Gebäude mit weniger Ausnahme, sondern auch sogar die Mauern der Städte aus Holz, d. h., mit quer über einander gelegten Balken zu bauen. Daher darf der Reisende, der gern alte Gebäude oder Ruinen aus der Vorzeit sehen will, nicht nach Russland gehen; er findet deren hier nur äußerst wenige und diese wenige rühren nur aus der mittelalterlichen Zeit her. In den Dörfern wie auch in den Städten werden noch heut zu Tage die meisten Häuser aus eben solchen über einander gelegten Tannenstämme aufgeführt. Der General-Feldmarschall Graf Sacken in Kiew und der Zivil- und Stellvertretende Kriegs-Gouverneur zu Charkow, wie auch viele reiche Gutsherren in ihren Dörfern bewohnten noch in jüngster Zeit, hölzerne Gebäude. Wenn von Häusern die Rede ist, bedient man sich auch immer der Beiwörter steinernen und hölzernen, was dem Ausländer, ehe er sich daran gewöhnt hat, zumal in St. Petersburg und Moskau, sehr auffallend vorkommen muss.

Von dem einst so bedeutenden, kaum bekannten Städtchen Moskau erzählt man folgendes. Ein reicher Bojar, Namens Stephan Iwanowitsch Kutschko hatte in der ganzen Umgegend und im Städtchen selbst große Besitzungen. Georg, ein regierender Fürst, den man auch als den Gründer Moskaus betrachtet, drang mit seinem Heer in die Besitzungen Kutschkos ein, ließ diesen ermorden und gab seinem Sohne Andreas, der im susdalischen Wladimir herrschte, Kutschkos bildschöne Tochter zur Gemahlin. Von nun an erhob sich das Städtchen allmählich zur Stadt, welche lange Zeit Kutschkowo hieß.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben–16-Moskau-und-viel-Merkwuerdiges

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