Russischer Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow: „Wir leben unter Militärzensur“

Russischer Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow: „Wir leben unter Militärzensur“

Pawel Tschikow ist einer der bekanntesten Anwälte Russlands. Sein Telegramkanal hat fast eine halbe Million Follower. Er leitet die Menschenrechtsgruppe Agora, zu der mehr als 50 Menschenrechtsanwälte und Juristen gehören. Sie fungieren als Verteidiger bei Fällen von Menschenrechtsverletzungen. Im Jahr 2020 kandidierte Tschikow für das Amt des Richters des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus Russland. Wie viele andere Menschenrechtsaktivisten sah er sich gezwungen, Russland zu verlassen. Im März hat das russische Justizministerium Tschikow zum ausländischen Agenten erklärt.

Pawel, Sie haben einmal geschrieben, dass „der Gesetzgebungsprozess in Russland sich buchstäblich vor unseren Augen verändert“. Was meinen Sie damit?

Pawel Tschikow: Politische Zweckmäßigkeit regiert über allem: Um die Entscheidungsfindung zu beschleunigen, finden staatliche Institutionen Umgehungsmöglichkeiten, wie man bloß an einem Tag ein repressives Gesetz einführt, genehmigt, unterzeichnet und veröffentlicht. Formal scheint alles den Regeln zu entsprechen, doch in Wirklichkeit ist das pure Willkür.

Die Duma produziert am laufenden Band ein peinliches Gesetz nach dem anderen, wie das Gesetz über Diskreditierung der russischen Streitkräfte, das so genannte „Fake News“-Gesetz. Jetzt soll es auch für die „Freiwilligenformationen“ gelten, also für die Wagner-Gruppe.

Prigoschin (der Chef der Wagner-Gruppe) hat sich stark für diese Änderungen eingesetzt und damit seinen Einfluss demonstriert. Solche Themen werden sofort von den Medien aufgegriffen, was letztlich der russischen Führung in die Hände spielt. Denn solche Gesetze haben eine abschreckende Wirkung – sie machen einen so deprimierenden Eindruck, dass es keiner Repression bedarf.

Wie zum Beispiel der Vorschlag, in Russland die Todesstrafe wieder einzuführen.

Das ist alles bloß Clickbait und Hype. Die Beamten konkurrieren miteinander, wer im Rahmen des pfeilartigen Trends zur Degradierung demokratischer Prinzipien ganz vorne ist. Ich glaube zwar nicht, dass dies passieren wird, aber es ist durchaus möglich. Das Moratorium für die Todesstrafe wurde von Präsident Jelzin im Zusammenhang mit dem Beitritt Russlands zum Europarat eingeführt. 2015 entschied das Verfassungsgericht, dass die Todesstrafe nicht angewendet werden sollte, da sich die gesamte zivilisierte Welt in diese Richtung bewegt.

Doch seit dem 6. März 2022 ist Russland nicht mehr Mitglied des Europarates.

Die Mitgliedschaft im Europarat an sich verhindert nicht die Todesstrafe, dafür muss das Land das 6. Protokoll der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ratifizieren, was Russland nie tat. Das heißt, die Abschaffung der Todesstrafe wurde nicht durch internationale Verpflichtungen gesichert, und der Austritt aus dem Europarat bedeutet nicht die automatische Rückkehr der Todesstrafe in Russland. Aber in all den fast 30 Jahren hat die russische Führung nicht den geringsten Versuch unternommen, die Möglichkeit einer Rückkehr dieser Strafe zu beseitigen. Wir wären viel schneller in eine Diktatur geraten, wenn es nicht die in den 90er-Jahren verabschiedeten Grundlagen der russischen Gesetzgebung gegeben hätte, auf deren die meisten staatlichen Institutionen geschaffen und die Strafverfolgungs- und Justizpraxis geformt wurden. Für den Kreml stellt dies immer noch große Hindernisse für den Übergang zu härteren Repressionen dar.

Nicht nur die neuen Gesetze sind absurd, sondern auch das, wofür die Menschen verhaftet werden: Man braucht nur mit einem Stock „Nein zum Krieg“ in den Schnee zu kritzeln.

Das begann bereits 2019, als es nach der Verabschiedung des Gesetzes über Respektlosigkeit gegenüber den Behörden zu einer regelrechten Verfolgungswelle wegen Beleidigung „Seiner Majestät“ kam und wegen der Aufschrift „Putin ist ein Dieb“ mit Überwachungskameras nach „gefährlichen Kriminellen“ gesucht wurde. Der Krieg hat die repressiven Praktiken nur noch verschärft.

Im heutigen Russland werden Menschenrechte mit Füßen getreten. Doch sie stellten noch nie einen wichtigen Wert für Russen da. Nur eine kleine Schicht der städtischen Bevölkerung mit höherer Bildung interessiert sich dafür. „Normale“ Bürger kümmern sich nicht um solche Themen. Oder liege ich da falsch?

Menschenrechte und Freiheiten basieren auf biblischen Geboten. Sie sind das Ergebnis der gesamten europäischen Zivilisation. Es ist nur so, dass viele Menschen sich dessen erst bewusstwerden, wenn ihnen etwas zustößt. Ja, die liberalen Intellektuellen kümmern sich in erster Linie um die Menschenrechte, denn sie haben am meisten unter dem Staat gelitten, während die breite Öffentlichkeit als Gaffer zusah. Doch die Mobilisierung zeigte zum ersten Mal im modernen Russland der allgemeinen Bevölkerung, wie hart der Staat sein kann, und der Wert der Menschenrechte wurde schnell erkannt.

Ich setze mich seit 24 Jahren für die Menschenrechte ein, und es war nie einfach, vielleicht mit Ausnahme einiger Jahre der Präsidentschaft von Medwedew. Die Ereignisse des letzten Jahres sind also nur eine natürliche Fortsetzung früherer langjähriger Praktiken. Politische Freiheiten sind in Russland so gut wie nicht mehr vorhanden – es gibt kaum Meinungsfreiheit, fast keine Versammlungsfreiheit und auch kein Recht auf Zugang zur Justiz. Aber bisher haben wir noch keine Massengewalt von Sicherheitskräften gegen einfache Bürger oder die Schließung von Grenzen erlebt.

Der Kreml verfolgt auch Menschen, die Russland bereits verlassen haben. Dem Schriftsteller Dmitri Gluchowski wird beispielsweise in Abwesenheit der Prozess gemacht, weil er „Falschaussagen über die russische Armee unter künstlicher Schaffung von Beweisen“ verbreitet haben soll. Sind das Schauprozesse?

Es ist ein Signal: „Ihr seid zwar geflohen, aber wir werden euch kriegen“. Jeder dritte Fall wegen Fake News, und das sind inzwischen etwa 200, richtet sich gegen Personen außerhalb Russlands, und es hat bereits drei Verurteilungen gegeben, mit Gefängnisstrafen. Dabei wird das Eigentum von diesen Menschen beschlagnahmt, bei Angehörigen finden Durchsuchungen statt, sie können keinen Pass bei einem russischen Konsulat beantragen. Wenn sie keine andere Staatsangehörigkeit haben, werden sie dadurch zur Person ohne Papiere.

Die Wagner-Gruppe rekrutiert Kriminelle aus Gefängnissen und kann sie sogar selbst begnadigen. Untergräbt das die Rechtsstaatlichkeit im Land?

Wenn Menschen, die von einem Gericht für schuldig befunden und zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, aus dem Gefängnis entlassen werden, weil ein Geschäftsmann, der mit dem Krieg gegen einen Nachbarstaat Geld verdient, darum gebeten hat; und wenn der Präsident persönlich mit seinen Begnadigungsdekreten daran beteiligt ist; wenn über diese Sträflinge Menschen bestimmen, die nicht einmal irgendein Amt inne haben – das ist an sich schon ein eklatantes Phänomen. Die Wagner-Kämpfer befinden sich außerhalb des gesetzlichen Rahmens. Die Erhöhung der Zahl der Personen, und zwar der bewaffneten, für die die russische Gesetzgebung nicht zu gelten scheint, untergräbt mit Sicherheit die staatlichen Institutionen.

Laut Angaben des russischen Innenministeriums ist die Zahl der Verbrechen mit dem Einsatz von Waffen im Jahr 2022 um 30 Prozent gestiegen. Ist das erst der Anfang?

Wir haben die Zunahme von Gewalt in der Gesellschaft im Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen untersucht. Alle Studien besagen – Krieg führt immer zu einer Explosion jeglicher Gewalt, ob häuslich, oder auf der Straße. Dies geschieht jedoch nach Kriegsende. Denn während des Krieges sind alle gewaltbereiten Menschen an der Front.  Aber wenn sie, traumatisiert, nach Hause zurückkehren und ihre Probleme mit Alkohol „behandeln“, fangen die Probleme an. Wir haben dies nach den Tschetschenienkriegen beobachtet. Psychologen haben sogar einen Begriff dafür – das „Tschetscheniensyndrom“.

Was hat sich seit dem 24. Februar 2022 genau im russischen Rechtssystem geändert?

Seit einem Jahr leben wir unter Militärzensur. Jede strafrechtliche Verfolgung wegen kriegsbezogener Äußerungen ist ein direkter Verstoß gegen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Mehr als 6.000 Menschen wurden wegen Antikriegsäußerungen verwaltungsrechtlich belangt, und jedem einzelnen von ihnen droht aufgrund dieses verfassungswidrigen Artikels eine strafrechtliche Verfolgung!

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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