Russischer Journalist: „Vor mir liegt völlige Dunkelheit“Foto: Andrej Loschak, russland.news

Russischer Journalist: „Vor mir liegt völlige Dunkelheit“

Andrej Loschak ist in Russland eine Legende. Der preisgekrönte Fernsehjournalist und Dokumentarfilmer hat in seinen Reportagen und Filmen viele heikle gesellschaftliche Themen wie Nationalismus oder die Drogen- und Hackerszene aufgegriffen. Kurz nach dem russischen Überfall drehte er eine die herzzerreißende Dokumentation Rasryw Swjasi („Verbindung unterbrochen“) darüber, was der Krieg mit russischen Familien macht: Kinder und Eltern reden nicht mehr miteinander, Paare trennen sich, Mütter nennen ihre Töchter „Verräterin“. Loschak zeigt 14 Personen, sieben Paare. Die meisten von ihnen, die gegen den Krieg waren, haben das Land bereits verlassen. Wie der Journalist selbst, der inzwischen in Frankreich lebt. An diesem Freitag ist Andrej Loschak zum „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Fast ein Jahr nach den Dreharbeiten stellt er fest, dass die russische Gesellschaft weiterhin in zwei Welten geteilt ist, die kaum zusammenwachsen können.  

Andrej, Ihr Film „Verbindung unterbrochen“ zeigt, wie der Krieg russische Familien buchstäblich gespalten hat. Ist dieser Familienkonflikt gleichbedeutend mit einer Spaltung der Gesellschaft? Gibt es in Russland bereits Rote und Weiße wie im Bürgerkrieg des 20. Jahrhunderts?

Andrej Loschak: Ich glaube nicht, dass es eine solche Feindschaft gibt, wo Menschen bereit sind, sich gegenseitig umzubringen. Die Gesellschaft ist noch nicht in zwei sich bekriegende Lager gespalten. Aber in jeder anderen Hinsicht gibt es diese Spaltung, die von den Machthabern mit allen Mitteln vorangetrieben wird. Je faschistischer das Regime wurde, desto mehr verlangte es von den Bürgern – nicht nur Loyalität, sondern auch Einstimmigkeit. „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“. Menschen wie ich, wie die Hälfte der Protagonisten in meinem Film, fühlen sich unter solchen Bedingungen als unterdrückte Minderheit, und das trägt sicher nicht zum Frieden in der Gesellschaft, zu ihrer Konsolidierung bei. Putin hat einmal gesagt, dass diejenigen, die gegangen sind, „Verräter und Abschaum“ sind, er hat uns als Mücken bezeichnet, die „das Volk“ aus seinem Mund „spucken wird“.

In Ihrer Dokumentation kommt das Wort „Verräter“ oft vor.

Andrej Loschak: Die Kriegsbefürworter leben in einer propagandistischen Informationsblase. Ihrer Logik zufolge sind wir schlechte Menschen, die ihre Heimat nicht gegen Eindringlinge und die Nato verteidigen wollen. Denn für sie ist der Krieg in der Ukraine ein Krieg um das Vaterland. Der Staat hat über viele Jahre hinweg eine künstliche Realität geschaffen, und viele sind unter ihren Einfluss geraten. Sie leben in einer Scheinwelt.

 Ja, aber es gibt die Meinung, man braucht mit diesen Menschen nur gut argumentierend zu reden, ihnen Bilder aus Butscha zu zeigen, dann würden ihnen die Scheuklappen von den Augen fallen und sie würden sofort zu Kriegsgegnern. Aber aus irgendeinem Grund funktioniert das nicht.

Andrej Loschak: Kann man einer Person, die halluziniert und sich in einem Zustand veränderten Bewusstseins befindet etwas mit Hilfe der Logik erklären? Es hat keinen Sinn, einen Dialog mit ihr zu führen, sondern man muss abwarten, bis sie aufwacht und wieder nüchtern wird. Genau das zeigt mein Film. Ich habe versucht, mit den Kriegsbefürwortern vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus zu sprechen. Aber keine Argumente funktionieren. Sie behaupten zum Beispiel, dass die Ukrainer ihre eigenen friedlichen Städte bombardieren. Ich frage, warum? „Weil sie Nazis sind, sie haben kein Mitleid mit den Menschen!“ Und warum haben sie es nicht vor dem 24. Februar 2022 getan? An dieser Stelle fallen ihnen keine Argumente ein, aber sie versuchen mit aller Kraft in ihrem Wertesystem zu bleiben, in dem sie sich wohlfühlen.

Die Frage ist, warum sie glauben, was sie glauben …

Andrej Loschak: Darüber sind schon so viele Bücher geschrieben worden. Die ganze Welt hat die schrecklichen deutschen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts analysiert. Eins ist klar: Es ist bequem, nicht kritisch darüber nachzudenken, was der Staat von einem verlangt, es ist bequem, ihm zu gehorchen. So funktioniert der Selbsterhaltungstrieb. Ich glaube, die meisten von ihnen glauben das von ganzem Herzen, aber in Wirklichkeit ist es ein Versuch zu überleben. Als ich an dem Film arbeitete, dachte ich, ich finde eine eindeutige Antwort auf diese Frage. Aber ich habe keine Antwort gefunden. Ich konnte lediglich das Phänomen einfangen. Zurzeit lese ich das „Berliner Tagebuch“ von William Shirer – das sind die Aufzeichnungen eines amerikanischen Journalisten, der in den 1930er Jahren in Hitlerdeutschland gearbeitet hat. Ich hatte die ganze Zeit ein Déjà-vu-Erlebnis ­– alles, was er beschreibt, lässt sich auf die russische Gesellschaft von heute übertragen. Ist es möglich, den Mechanismus, der Menschen zu Zombies macht, zu verstehen, um ihn zu bekämpfen? Ich weiß es nicht.

Kann man überhaupt messen, wie viele Russen für und wie viele gegen den Krieg sind?

Andrej Loschak: Wenn man außerhalb Russlands lebt, hat man oft den Eindruck, das ganze Land sei faschistisch. Genauso, wie man geglaubt hatte, ganz Deutschland sei fanatisch gewesen. William Shirer hat in seinen Gesprächen mit vielen Deutschen damals festgestellt, dass sie mit vielen Dingen unzufrieden waren. Es gibt also keine totale Unterstützung für den Krieg oder für Putin. Ich kann das mit Sicherheit sagen, weil ich an einem neuen Projekt arbeite und wir im russischen Hinterland drehen – da sind bei weitem nicht alle für den Krieg, und diese Stimmung nimmt zu. Wenn man der Soziologie glaubt vertraut, dann sind 15 Prozent gegen den Krieg, 15 Prozent sind überzeugte Befürworter und 70 Prozent sind diejenigen, die versuchen, nicht darüber nachzudenken, obwohl sie durch ihre Neutralität im Grunde unterstützen, was passiert. Ich denke, so funktioniert jede Gesellschaft – die meisten Menschen sind einfach nur Konformisten, die das unterstützen, was mehr Vorteile bringt. Im heutigen Russland ist es vorteilhafter, auf der Seite der Machthaber zu stehen. Aber diese 70 Prozent wollen keinen Krieg um jeden Preis und „bis zum bitteren Ende“.

Viele Kriegsbefürworter in Ihrer Dokumentation sagen: „Die da oben wissen es besser“. Das reicht ihnen, um Putin zu vertrauen und den Krieg zu unterstützen. Greift hier die sogenannte „erlernte Hilflosigkeit“?

Andrej Loschak: Ich denke schon. Schließlich hat uns die russische Geschichte gelehrt, dass man den Kopf einziehen und sich bedeckt halten muss. Das war und bleibt die Überlebensstrategie. Wir sind es gewohnt, alles an „die da oben“ zu delegieren. „Politik ist ein schmutziges Geschäft, von uns hängt nichts ab“, heißt es. Das ist sehr praktisch, weil man sich auf diese Weise von aller Verantwortung freisprechen kann. Das kann man wunderbar in russischen Städten beobachten: Hinterhöfe sind verwahrlost, Eingangsbereiche schmutzig – aber die Wohnungen sind blitzeblanksauber und gemütlich. Ein Dialog mit der Macht wird standardmäßig als sinnlos oder sogar gefährlich angesehen, so dass die Politik keinen Druck von der Gesellschaft verspürt, was bedeutet, dass sie alles tun kann. Durch ihre Passivität hat die Gesellschaft in Putin die Eigenschaften gefördert, die wir jetzt haben, hat ihm freie Hand gelassen.

Ihr Film, den inzwischen fast zwei Millionen Menschen auf YouTube gesehen haben, erhält viele Kommentare. Unter anderem las ich folgenden Kommentar: „Ich bin kein Journalist, ich bin 73, aber bereits am 1. Januar 2000 ist mir alles klar geworden. Es gibt für mich keine Möglichkeit Russland zu verlassen. Doch das Leben hat viele Gesichter, man kann sich ja nicht jede Minute vor Ekel übergeben. Ich bleibe ein Mensch!“ Haben Sie ein Rezept, wie man im heutigen Russland menschlich bleiben kann?

Andrej Loschak: Ich habe nicht einmal das moralische Recht, darüber zu theoretisieren, denn ich habe Russland verlassen. Für mich persönlich war es in den letzten zehn Jahren schwierig, Mensch zu bleiben. Die Regierenden verlangen ständig Kompromisse und Zugeständnisse. Wie eine russische Schriftstellerin sagte, manchmal braucht es Heldentum, um ein anständiger Mensch zu bleiben. Vielleicht war das vor dem Krieg eine Übertreibung, aber jetzt ist es buchstäblich wahr.  Schauen Sie sich an, was derzeit in der Theaterwelt passiert? (Einige bekannte russische Schauspieler wurden wegen ihrer politischen Ansichten entlassen – die Redaktion). Alle schweigen. Dabei bin ich mir sicher, dass 90 Prozent mit diesen Entscheidungen nicht einverstanden sind. Aber durch ihr Schweigen, durch ihre Kompromisse werden sie zu Komplizen und zu Mittätern. Das Ausmaß der Angst in der Gesellschaft hat meiner Meinung nach bereits das Ausmaß der Angst aus der Sowjetzeit erreicht.

Sehen Sie eine Version des Tages danach? Was wird passieren, wenn der Krieg vorbei ist?

Andrej Loschak: Ich sehe gar nichts. Vor mir liegt völlige Dunkelheit. Ich hätte Ihnen gerne eine realistische, optimistische Version der Zukunft aufgezeigt. Aber ich habe keine.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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