Russische Sprache weltweit auf absteigendem Ast

Gazeta.ru macht sich Gedanken darüber, warum die russische Sprache immer mehr an Gewicht verliert in der Welt. Anlass ist die Ankündigung Kasachstans, vom kyrillischen zum lateinischen Alphabet zu wechseln.

Am 12. April 2017 hat der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew in der wichtigsten offiziellen Zeitung des Landes einen Artikel veröffentlicht. Dort schlägt er der Regierung vor, bis Jahresende den Übergang des kasachischen Alphabets von der kyrillischen Schrift zur lateinischen sicherzustellen. Klug ausgedrückt nennt sich das „linguistische Souveränität“.

Für die Russen ist es wichtig, wie der letzte Langzeitherrscher eines postsowjetischen Staates vom Moment des Zerfalls der UdSSR an die Notwendigkeit dieses Wechsels begründet. Seiner Ansicht nach ist er nötig wegen des modernen technologischen Milieus, der Kommunikationen und der Besonderheiten des wissenschaftlichen und Bildungs-Prozesses im 21. Jahrhundert.

„Die Schüler lernen Englisch und haben sich bereits an die lateinischen Buchstaben gewöhnt. Deshalb wird es für die junge Generation keine Probleme geben“, schreibt Nasarbajew. Soll heißen: Das kyrillische Alphabet, das in Kasachstan – wie in der ganzen Welt – mit der russischen Sprache und Russland assoziiert wird, scheint für Präsident Nasarbajew nicht die Ausdrucksform für das moderne technologische Milieu, Wissenschaft und Bildung zu sein. Und nicht nur für ihn.

Vorschläge, dem Kyrillischen zugunsten des Lateinischen zu entsagen (wofür es eine Menge Geld braucht), ertönen auch im gänzlich verarmten Kirgisien. Usbekistan ging vor 22 Jahren zur lateinischen Schrift über. In Tadschikistan, das noch kyrillisch schreibt, laufen ständig politische Diskussionen zu diesem Thema. Über den Status des Russischen in der Ukraine wollen wir lieber schweigen.

Die „Financial Times“ (FT) hat kürzlich einen Artikel gebracht, über dessen Inhalt es sich nachzudenken lohnt, vor allem sollten das die leidenschaftlichen Anhänger der heutigen russischen Außenpolitik tun. Damit sie sich später nicht wundern, warum diese Politik nicht zum Anwachsen, sondern zur Abnahme von Russlands Einfluss führt.

Nach Angaben der Zeitung hat die russische Sprache in den letzten 20 Jahren „mehr an Boden verloren als jede andere“. Dabei stehen diese Verluste im scharfen Kontrast zu dem immer offensichtlicher werdenden Wunsch der russischen Führung, Russlands Wichtigkeit in den Weltangelegenheiten zu demonstrieren.

Nach Angaben von FT ist die Zahl derjenigen, die Russisch verwenden, in Kasachstan von 33 Prozent (1994) auf 20 Prozent (2016) gesunken; in Estland und Lettland von 40 bzw. 33 Prozent auf 29 bzw. 23 Prozent. Nur in Weißrussland ist eine gegenläufige Tendenz zu verzeichnen: Die Zahl der Russischnutzer ist dort von 50 Prozent (1994) auf 70 Prozent (2016) gewachsen. Dabei ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die weißrussische Sprache sich bei den Weißrussen selbst niemals großer Beliebtheit erfreute.

Russisch als Muttersprache sprechen in der Welt immer noch 170 Millionen Menschen. Aber ihre Zahl geht zurück. Russisch gehört noch zu den zehn am weitesten verbreiteten Weltsprachen; es liegt auf dem achten Platz. Aber höher stehen nicht nur Chinesisch, Arabisch oder Englisch, sondern zum Beispiel auch Bengalisch.

Übrigens belegt Englisch nach der Verbreitung heute den dritten Rang in der Welt – nach Chinesisch (es gibt einfach viel mehr Chinesen als Vertreter aller anderen Völker) und Spanisch. Aber wenn man betrachtet, welchen Anteil am Welt-Bruttoinlandsprodukt (BIP) die Träger der einen oder anderen „globalen“ Sprache einbringen, werden die Perspektiven der wichtigsten Weltsprachen in absehbarer Zukunft sofort klar.

Chinesische Muttersprachler produzieren mehr als zwölf Prozent des Welt-BIP; bei den spanischen sind es ungefähr 6,5 Prozent; bei den englischen etwas weniger als 29,3 Prozent; bei den russischen ganze 2,5 Prozent. Wobei der Anteil von Russland selbst an der Weltwirtschaft – unter anderem wegen unserer Politik – seit 2014 rasant fällt; er liegt bereits bei unter zwei Prozent. Indes kann man sich allein anhand der Beliebtheit von amerikanischen Filmen und McDonald´s vorstellen, wie effektiv eine weiche Sprach- und Kulturexpansion sein kann.

Dank der Politik der Hybridkriege, der Neigung der Elite zu Obskurantismus und Archaik, der kriegerischen und zuweilen einfach pöbelhaften Rhetorik unserer Teleshows und auch infolge des Zustands unserer Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung verliert das Russische rasant an Popularität in der Welt. Wir schrecken die Nachbarn ab, statt sie anzuziehen – gerade in den ehemaligen Sowjetrepubliken lebt die Mehrheit der russischen Muttersprachler außerhalb Russlands.

Wir haben keine Möglichkeit, diese Situation auf die einfachste Weise – „im Bett“, mit Hilfe der Demografie – zu beheben. Die Russen werden zumindest in den kommenden Jahrzehnten, was ihre Zahl angeht, weder die Chinesen noch die Inder oder Araber einholen. Nach Angaben des Statistikamtes Rosstat lebten am 1. Januar 2017 in Russland 146.838.993 Menschen. Das sind 825.000 weniger als 1990 in der RSFSR, vor dem Zerfall der UdSSR.

Natürlich spielte bei der Verbreitung des Englischen oder Spanischen in der Welt die koloniale Vergangenheit eine Rolle. Aber Russland hatte ebenfalls seine Großreich-Ressource und vergeudet sie auf die erdenklich schlechteste Weise. Russland hört selbst für die mittelasiatischen Republiken auf, ein Ort zu sein, wo man gerne studiert. Diesen Platz erobert jetzt China, für die ortsansässige Elite öffnen sich auch die westlichen Länder. Übrigens macht sich auch die russische Polit- und Geschäftselite keine Illusionen hinsichtlich der Qualität des eigenen Staates – sie schickt ihre Kinder zum Leben und Lernen in den „verhassten Westen“.

Die „russische Welt“ und der russische Neoimperialismus in Kombination mit dem Rückgang der wirtschaftlichen und Bildungs-Attraktivität Russlands für die Nachbarn wirkt sich direkt schädlich auf die russische Sprache aus. Ihr schaden unsere Diplomaten, die von der UN-Tribüne hinweg ihre politischen Opponenten duzen. Ihr schadet die Unterstützung von zweifelhaften Diktatoren. Ihr schaden politische Teleshows, in denen die Fähnriche der lexikalischen Reserve das Sagen haben. Ihr schadet das Entwicklungsniveau der Wirtschaft, Bildung und des Gesundheitswesens. Ihr schaden die Theologie-Lehrstühle an den naturwissenschaftlichen Hochschulen.

Die von orthodoxen Aktivisten veranstalteten Pogrome von Ausstellungen und Theatervorstellungen. Das Massenplagiat in den Dissertationen von Staatsmännern. Die Korruption als Verfahren der Lenkung des Landes. Ihr schadet der aus dem Nichts gegriffene Skandal mit der Eurovision: Niemand hat uns daran gehindert, einen Sänger nach Kiew zu schicken, der nicht auf der Krim aufgetreten ist, und auf keinen Fall durften wir eine junge Frau mit Behinderung für politische Spielchen ausnutzen. Da schaden wir uns selbst und unserer großen und mächtigen – ohne Ironie – Sprache.

Russisch hört nicht auf, für die Welt die Sprache von Puschkin, Lew Tolstoi und Tschechow zu sein (die beiden Letztgenannten gehören immer noch zu den bekanntesten Schriftstellern auf dem Planeten). Das ist die Sprache der Filme von Eisenstein und Tarkowski, Rjasanow und Danelija. Aber heute ist Russisch in der Welt vor allem die Sprache der Archaik, der Aggression und der totalen Wut auf die anderen.

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