„Die Russische Revolution bricht mit den humanistischen Ideen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts.“

[von Dr. Kristiane Janeke] 2017 jährt sich die russische Revolution zum 100. Mal. Das Deutsche Historische Museum zeigt vom 18. Oktober 2017 bis 15. April 2018 die Sonderausstellung „1917. REVOLUTION. RUSSLAND UND EUROPA“. Tatjana Weidemann von »russlandkontrovers« sprach mit der Kuratorin der Ausstellung Dr. Kristiane Janeke über die verschiedenen Lesarten der Russischen Revolution in Europa und ihre Rolle im internationalen politischen Diskurs.

Sehr geehrte Frau Dr. Janeke, die Russische Revolution erlebt in diesem Jahr ihren 100. Jahrestag. Was war an dieser Revolution besonders? Was macht sie für uns aktuell?

Die Russische Revolution war ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung und ein Schlüsselereignis für das 20. Jahrhundert. Sie ist die Geburtsstunde der Gegensätze zwischen liberal-demokratischen und diktatorischen Gesellschaftsentwürfen und eine Wegbereiterin der Polarisierung der Welt in zwei Lager. Dies wirkt bis heute in Russland und der umliegenden Region sowie in den Strukturen der internationalen Gemeinschaft nach. Darüber hinaus hat die Auseinandersetzung mit diesem ersten sozialistischen Staat die innere Entwicklung vieler Länder nachhaltig beeinflusst. Die Folgen und Auswirkungen der Revolution, also die Gründung der Sowjetunion, die Spaltung der Arbeiterbewegung in Europa sowie die enormen Migrationsströme sind zentral für das Verständnis des 20. Jahrhundert, darunter insbesondere auch für die deutsch-deutsche Geschichte.

Die Revolution wird von einigen als ein positives Ereignis und ein Akt der Befreiung interpretiert, von anderen dagegen als Katastrophe und Tragödie. Wie sehen Sie das?

Wichtig ist es zu verstehen, dass es DIE eine russische Revolution nicht gegeben hat, sondern es sich vielmehr um einen komplexen Prozess aus zwei Revolutionen im Jahr 1917 und einem mehrjährigen Bürgerkrieg gehandelt hat, indem verschiedenen politische, soziale und nationalen Gruppen jeweils ihre eigenen Interessen vertreten haben. Die Geschichte kann auf ganz unterschiedliche Weise erzählt werden, darunter als Sturz des Zarismus, als soziale oder nationale Revolution, als Orgie von Hunger, Gewalt und Terror oder aber auch als Kulturrevolution. Sie war in der Stadt eine andere als auf dem Dorf, im Zentrum eine andere als an der Peripherie. Dass sich letztlich die Bolschewiki mit ihren Zielen und Vorhaben durchsetzten, ist ihrem Einsatz extensiver Gewalt und der Unterdrückung ihrer Gegner zuzuschreiben.

Diese Entwicklung war zudem sehr ambivalent und war auf der einen Seite mit Hoffnungen und Träumen von einer besseren Zukunft, auf der anderen Seite mit Ängsten und Gewalterfahrungen verbunden. Diese Vielschichtigkeit der Revolution spiegelt sich in der nachhaltigen Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit sowie der Gleichzeitigkeit von Vision und Realität oder auch Emanzipation und Gewalt wider. Der Anspruch auf radikale Erneuerung von Politik und Gesellschaft und die Wirkungsmächtigkeit der damit verbundenen Ideen sind untrennbar verbunden mit der verheerenden Zerstörung wirtschaftlicher und sozialer Strukturen. Sowohl die normative Kraft der Vision als auch der Zwang der Machterhaltung dienten als Rechtfertigung für Terror, Repression und Gewalt.

Das Deutsche Historische Museum zeigt vom 18. Oktober 2017 bis 15. April 2018 die Sonderausstellung „1917. REVOLUTION. RUSSLAND UND EUROPA“. Sie haben das Konzept der Ausstellung erstellt und waren als Kuratorin an dem Projekt beteiligt. Welche Aspekte der Russischen Revolution waren Ihnen als Historikerin besonders wichtig?

Für mich war es wichtig, dem Besucher zu vermitteln, dass die russische Revolution nicht etwa ein Ereignis von regionaler Bedeutung, sondern von großer Strahlkraft für Russland, Europa und die Welt war und warum es wichtig ist, sich nach 100 Jahren noch daran zu erinnern. Das Konzept der Ausstellung geht davon aus, dass man die historische Bedeutung der Revolution nur verstehen kann, wenn man das Ereignis selbst und seine Wirkung in den Bick nimmt. Daraus ergeben sich die beiden Schwerpunkte der Ausstellung, die der Untertitel mit «Russland und Europa» aufnimmt.

Ein zweiter Grundgedanke ist, dass in allen Bereichen der Ausstellung die oben benannte Komplexität und Ambivalenz erkennbar sein muss. Dies ist wichtig, damit der Besucher versteht, was eigentlich passiert ist, welche Reaktionen das Ereignis hervorgerufen und warum die Revolution zu so kontroversen Interpretationen und politischen Standpunkte geführt hat.

Schließlich war es mir ein Anliegen, möglichst viele und aussagekräftige Exponate aus russischen Museen zu zeigen, die in Deutschland nur selten oder bisher gar nicht zu sehen waren.

Die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums ist ein Kooperationsprojekt mit dem Schweizerischen Nationalmuseum. Gibt es nationale Besonderheiten und Unterschiede in der Herangehensweise an das Thema? Gehen die Schweizer anders damit um als die Deutschen?

Sowohl das Schweizerische Nationalmuseum als auch das Deutsche Historische Museum haben jeweils eine Ausstellung aus Anlass des 100. Jahrestages der russischen Revolution erarbeitet. Beide Ausstellungen sind verbunden durch einen gemeinsam produzierten Essayband, der ergänzend zu den beiden Ausstellungskatalogen erschienen ist, sowie die Tatsache, dass ich für beide Museen als Kuratorin tätig war und wir mit denselben russischen Partnern zusammengearbeitet haben.

Den Ausstellungen selber lag ein je eigenes Konzept zugrunde, und sie hatten bzw. haben unterschiedliche Schwerpunkte. Während die Schweizer Ausstellung die Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz vom Ende des 18. bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhundert in den Blick genommen hat, geht es in Berlin neben der Revolution selbst um deren Folgen und Wirkungen in Europa. Unterschiede in der Herangehensweise haben sich eher aus den inhaltlichen Schwerpunkten der Ausstellungen sowie der Arbeitsweise der Museen ergeben.

Wie erlebten Sie die Kooperation mit den russischen Kollegen? Gab es hier unterschiedliche Lesarten oder Kontroversen zur Revolutionsdeutung? Hat man die Spannungen des momentan herrschenden bilateralen gesellschaftspolitischen Diskurses gespürt?

Eine solche Ausstellung kann man nicht ohne die Einbeziehung von russischen Museen und Sammlungen machen, wenn man seine Aufgabe ernst nimmt. Aus diesem Grund haben wir mit Museen in Moskau und St. Petersburg zusammengearbeitet, d.h. Exponate vor Ort in den Sammlungen recherchiert und uns mit den russischen Kollegen ausgetauscht. Weitere Materialien in Form von Repros und Filmen kommen aus anderen russischen Museen und Archiven, darunter in Jekaterinburg, sowie aus Minsk und Kiew.

Ich arbeite seit vielen Jahren für und mit Museen in Deutschland und Russland und erlebe die Zusammenarbeit als sehr konstruktiv und vertrauensvoll. Auf der Arbeitsebene spielen politische Fragen praktisch keine Rolle. Über die Revolution dagegen haben wir lebhaft diskutiert. Wirkliche Kontroversen gibt es aber auch hier nicht: Der wissenschaftliche Diskurs ist soweit internationalisiert, dass wir uns regelmäßig auf Konferenzen austauschen. Natürlich sind die Russen näher dran an dem Thema, haben ein anderes Interesse, lange vernachlässigte Fragen aufzuarbeiten, während es hier in Deutschland eher um die Erinnerung und Wirkungen geht. Anders sieht es mit der offiziellen Lesart der Revolution durch die russische Politik aus, die aber wiederum nicht Gegenstand unserer Ausstellung ist.

Seit einigen Jahren hat man den Eindruck, Geschichte werde vermehrt für aktuelle politische Diskurse instrumentalisiert. Was halten Sie von dieser Entwicklung? Werden diese Tendenzen anhalten? Wie stark betrifft es das Thema Russische Revolution?

Richtig ist, dass die Themen Geschichtspolitik und Erinnerungskultur Eingang in die Geschichtswissenschaft gefunden und sich zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt haben. Dazu beigetragen haben auch die Diskussionen, die insbesondere in Mittel- und Osteuropa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion über die eigene Vergangenheit geführt wurden und werden. Die Tatsache, dass hier jahrzehntelang ein offizielles Geschichtsbild vorgegeben war und offene Diskussionen über alternative Interpretationen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich waren, wird in Westeuropa oft übersehen und führt dazu, dass diese Standpunkte noch immer nicht ausreichend in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs einbezogen werden. Dies ist aber eine Voraussetzung, wenn wir uns alle gemeinsam über eine europäische Identität verständigen wollen.

Die russische Revolution spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, im Vordergrund stehen dabei die Erfahrungen während und in Folge des Zweiten Weltkriegs. Betrachtet man diesen aber in einem größeren Kontext, so geraten auch der Erste Weltkrieg und damit natürlich auch die russische Revolution in den Blick. Tatsächlich ist sie für das Verständnis der Mentalitätsgeschichte ist West- und Osteuropa von entscheidender Bedeutung. Ähnlich wie die Französische war auch die russische Revolution ein Emanzipationsprozess, allerdings kein humanistischer in der Tradition europäischer Revolutionen. Sie stellt vielmehr einen Bruch mit den Revolutionsideen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts dar, d.h. mit den Forderungen der bürgerlichen Gesellschaft nach mehr Partizipation an der Politik, mehr Grundrechten und dem Schutz des Einzelnen vor dem Staat. Die Bolschewiki traten nicht für bürgerliche Freiheiten ein oder forderten gar eine Ausweitung dieser Errungenschaften, ganz im Gegenteil, sie sagten sich von diesem Gesellschaftmodell los, erkämpfte Freiheiten wurden eingeschränkt und zurückgenommen. Sie begründeten eine neue Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die mit den Werten der bürgerlichen Gesellschaft brach, und die das Kollektiv über das Individuum stellte.

Was sagen Sie zu der Behauptung, die Russische Revolution sei vom Deutschen Reich finanziert und unterstützt worden? Kann man diese Feststellung historisch widerlegen? Wird dieser Aspekt in der Ausstellung behandelt?

Richtig ist, dass das Deutsche Reich ein Interesse an dem Kriegsaustritt Russlands hatte, um den Zweifrontenkrieg beenden zu können. Aus diesem Grund hat man Lenin und die Bolschewiki unterstützt, die genau dieses Ziel, den Auftritt Russlands aus dem Krieg, verfolgt haben. Im Übrigen war es nicht ungewöhnlich, die politischen Widersacher der eigenen Kriegsgegner zu unterstützten, das haben die meisten Staaten so gemacht. Frei zugängliche Dokumente im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts geben Auskunft darüber. Teile dieser Dokumente sind zudem seit den 50er Jahren publiziert. Wir zeigen zwei Originaldokumente in der Ausstellung.

Noch immer fragen mich aber die russischen Kollegen nach diesem Thema, da die offizielle Interpretation während der Sowjetunion die Beteiligung der Deutschen heruntergespielt hat, um Lenins Initiative und Genialität nicht zu schmälern und ihn nicht als deutschen Agenten dastehen zu lassen. Viele Russen wissen nicht, dass die Akten längst öffentlich zugänglich sind und glauben vielfach noch heute, dass die Unterstützung des Deutschen Reiches ein Mythos ist, um Lenin zu diskreditieren.

Eine direkte Frage: War Vladimir Lenin ein deutscher Spion?

Ganz sicher nicht.

Gibt es in Deutschland einen vergleichbaren Ort wie Zimmerwald in der Schweiz, der eine besondere Bedeutung für die internationale Arbeiterbewegung bzw. die russische Revolution hat?

Nein, einen solchen Ort gibt es nicht. Das hat auch mit der regionalen Struktur Deutschlands zu tun. 1918 und in den Jahren der führen Weimarer Republik gab es politische und revolutionärere Unruhen in verschiedenen Städten und Regionen, an die jeweils lokal erinnert wird. Ein anderer Asket ist die Erinnerungslandschaft der DDR mit vielen Orten zum rituellen Gedenken an die Arbeiterbewegung und Geschichte des Kommunismus.

Aus Anlass der Ausstellung steht eine über 3 Meter hohe Skulptur von Lenin im Foyer des Pei-Baus. Gibt es eine Geschichte hinter diesem Exponat? Haben Sie ein Lieblingsexponat?

Dieses frühe Denkmal für den russi­schen Revolutionsführer wurde 1926 in Puschkin bei Leningrad aufgestellt. Einer Legende zufolge forderte die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges die örtliche Bevöl­kerung auf, entweder das Lenin-Denk­mal oder die Kirchenglocken zu opfern, um sie als dringend benötigtes Metall für die Kriegsproduktion einzuschmel­zen. Die Bevölkerung entschied sich für das Denkmal, und so wurde die Skulptur nach Eisleben abtransportiert. Da die Statue für den Schmelzofen aber offenbar zu groß war, überdauerte sie den Krieg. Rund zwei Monate nach Kriegsende erfolgte in Eisleben ein Wechsel der Besatzungstruppen von der US-Armee zur Roten Armee. Um diese zu begrüßen, ließ die Stadt die Statue am 2. Juli 1945 auf dem Markt­platz aufstellen. Die Sowjetunion soll von dieser Geste so gerührt gewesen sein, dass sie die Statue in einer offiziellen Zeremonie im Beisein von Walter Ulbricht am 1. Mai 1948 der Stadt Eisleben schenkte. Nach der Deutschen Einheit entschied der Eislebener Stadtrat die Demontage des Lenin-Denk­mals, das daraufhin 1991 als Dauerleihgabe in das Deutsche Historische Museum gelangte.

Die Skulptur ist in der Tat ein eindrucksvolles Exponat der Ausstellung, da in seiner Geschichte auch die nachhaltige Wirkung der Revolution zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus gibt es aber auch viele weitere tolle Objekte wie z.B. das Gemälde Der Pilger aus einer Berliner Privatsammlung am Anfang des Rundgangs. Als eines der ganz wenigen verfügbaren Exponate für dieses Thema gibt es Auskunft über das bäuerlich geprägte Russland Ende des 19. Jahrhunderts. Oder ein Stück vom Fockmast des Panzerkreuzers Potjomkin sowie eine Wahlurne für das erste gewählte Parlament, der Duma – beides aus dem Staatlichen Historischen Museum Moskau und beides als Zeugnisse der Revolution von 1905.

Unmittelbar aus den Tagen der Februarrevolution stammt eine Regimentsfahne desselben Leihgebers mit dem Leitspruch „Für Glaube, Zar und Vaterland“. Da der Zar nun gestürzt war, übernähten die Soldaten das Wort „Zar“ kurzerhand mit rotem Stoff – der Farbe der Revolution.

Eine tolle Geschichte erzählt eine Bibel, die wir bei dem Thema „Migrationen“ zeigen. Ihr Eigentümer konnte sie nicht mitnehmen, als er 1918 Petrograd verließ. Er erhielt sie schließlich wieder, als ein Freund von ihm genau diese Bibel 1953 mit seiner Handschrift auf einem Trödelmarkt entdeckte und sie ihrem ursprünglichen Besitzer in dessen neuer Heimat, den USA, zurückgab.

Eines meiner vielen Lieblingsexponate ist die Skulptur des russisch-amerikanischen Künstlers Alexander Kosolapov aus dem Jahr 2007, die mit ihrer Darstellung und dem Titel „Hero, Leader God“ am Ende der Ausstellung eine ebenso provokante wie doppeldeutige künstlerische Position der Gegenwart vermittelt. Sie gibt eine mögliche Antwort auf die Frage, warum es sich lohnt, noch 100 Jahre danach über die Russische Revolution nachzudenken.

Welche Unterschiede der Bewertung der Revolution gibt es? Welche Erwartungen haben die Besucher?

Die Revolution wird bis heute sehr kontrovers gedeutet. Um diesen Aspekt in die Ausstellung einzubeziehen, haben wir sowohl im Prolog als auch im Epilog der Ausstellung aktuelle Positionen aufgenommen. Im Prolog kommen Menschen aus Deutschland und Russland zu Wort, die die Bedeutung der Revolution aus heutiger Sicht thematisieren. Im Epilog präsentieren Kunstwerke aus verschiedenen Jahren unterschiedliche künstlerische Auseinandersetzung mit politischen Instrumentalisierungen der Revolution und Zitate von Intellektuellen erweitern den Rahmen zu verschiedenen Interpretationen und Positionen. Damit schließt sich der Bogen zum Anfang der Ausstellung.

Was die deutschen Besucher betrifft, so haben diese ja ganz unterschiedliche Erfahrungen mit dem Thema in der Schule gemacht und sicherlich unterschiedliche Vorstellungen von der russischen Revolution, je nachdem, wo sie groß geworden sind: in der ehemaligen DDR, in Westdeutschland oder wiederum in der Sowjetunion, wie es bei den Russlanddeutschen der Fall ist. Jemand, der in der DDR aufgewachsen ist, denkt bei dem Thema oft nur an die Oktoberrevolution, jemand der aus Westdeutschland kommt, weiß meistens gar nicht, warum die Hälfte Europas das Gedenken an die Oktoberrevolution jahrelang im November begangen hat.

Sehr geehrte Frau Dr. Janeke, wir bedanken uns für das Interview. »russlandkontrovers« und das Deutsch-Russische Forum wünschen Ihnen und dem DHM für die Ausstellung viel Erfolg und zahlreiche interessierte Besucher.

COMMENTS