Russische Grenzen bleiben offen? Nicht für alle

Russische Grenzen bleiben offen? Nicht für alle

Seit dem 24. Februar 2022 wird in Russland immer wieder die Frage gestellt, ob die russische Führung die Landesgrenzen schließen wird. Besonders heftig wurde diese Frage während der Teilmobilmachung im vergangenen Herbst diskutiert. Die Schließung der Grenzen gilt als eines der Kennzeichen für den Übergang von einer Autokratie zu einer echten Diktatur.

Doch obwohl nach verschiedenen Schätzungen bis zu einer Million Russen aus dem Land geflohen sind, um nicht an die Front in die Ukraine geschickt zu werden, wurden die Grenzen nicht geschlossen. Im Gegenteil, die Tendenz geht eher dahin, dem Regime unliebsame Personen aus Russland zu vertreiben – Tausende Intellektuelle leben inzwischen in Israel, Georgien, Frankreich, Portugal oder Deutschland. Die russische Politologin Ekaterina Schulmann spricht von einer „konsequenten Politik, Menschen, die nicht in das aktuelle ideologische Gerüst passen, zur Auswanderung zu bewegen“.

Doch nun haben Journalisten des investigativen Projekts Sistema, das von Radio Liberty und der Zeitung Nastojaschee Wrjemja ins Leben gerufen wurde, herausgefunden, dass Mitarbeitern von Staatsunternehmen, staatlichen Körperschaften und Beamten in Russland die Pässe abgenommen werden. Dies wurde den Journalisten aus verschiedenen Quellen mitgeteilt. Manchmal verlangt der FSB, ein Dokument aufzubewahren, in anderen Unternehmen muss das Dokument in eine spezielle Abteilung am Arbeitsplatz gebracht werden. Denjenigen, die sich weigern, wird die Kündigung angeboten oder mit der Einziehung des Passes gedroht. Einige Mitarbeiter kündigen schließlich „aus freien Stücken“.

Ein Dokument oder eine klare Anweisung, die Pässe einzuziehen, scheint es jedoch nicht zu geben. In verschiedenen Einrichtungen wird den Mitarbeitern entweder dringend geraten, keinen Urlaub im Ausland zu machen, oder es wird ihnen eine Liste „zulässiger“ Reiseländer angeboten, darunter beispielsweise Staaten, die Mitglieder der EAG oder der OVKS sind.

Auch das unabhängige Online-Medium Verstka (übersetzt: Layout) berichtet, dass einige Beamte und Angestellte staatlicher Unternehmen angewiesen wurden, ihre Reisepässe abzugeben. Bereits im vergangenen Herbst war Moskauer Beamten verboten worden, ins Ausland zu reisen, um zu verhindern, dass sie „Bilder“ posten, die ihr luxuriöses Leben zeigen. Öl ins Feuer gossen Skandale um die Neujahrsreisen einiger russischer Abgeordneter ins Ausland. Nun haben die regionalen Behörden beschlossen, das Recht von Beamten und Abgeordneten auf Reisen außerhalb Russlands einzuschränken. So riet der Gouverneur von Wologda, Oleg Kuwschinnikow, Abgeordneten und Gesetzgebern „dringend davon ab, ins Ausland zu reisen“, berichtete die Zeitung Kommersant. Ähnliche Ratschläge wurden laut Kommersant an Beamte in den Republiken Marij El, Tschuwaschien und Nordossetien sowie in den Regionen Tambow, Swerdlowsk, Brjansk und Nowgorod erteilt.

Bereits nach geltendem russischen Recht gibt es eine ganze Gruppe von Personen, die nicht ins Ausland reisen dürfen. Dazu gehören Militärangehörige und Zivildienstleistende sowie aktive und ehemalige Mitarbeiter des FSB für einen Zeitraum von fünf Jahren nach ihrer Entlassung, wenn sie Zugang zu Staatsgeheimnissen hatten. Bereits 2014, nach der Annexion der Krim, wurden die Auslandsreisebestimmungen für Beamte und Angestellte verschärft. Damals wurde Gesetzeshütern und Richtern geraten, keine unfreundlichen Länder“ zu besuchen.

In ihrer YouTube Sendung „Status“ kommentierte Ekaterina Schulmann die Berichte darüber, dass Beamten Reisepässe abgenommen werden: „Es ist ein Trend, der bereits 2012 anfing. Damals wurde das erste Sanktionsgesetz, der Magnitsky Act verabschiedet. Danach wurde den Mitarbeiter des Außenministeriums, der Geheimdienste und des Verteidigungsministeriums verboten ins Ausland zu reisen, auch nicht zur medizinischen Behandlung. Sie durften nur auf Dienstreisen gehen“. Dies ist nicht gerade eine Reisebeschränkung, präzisiert Schulmann. Es zeige die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, die neben den Privilegien auch einige Belastungen mit sich bringe. Laut Schulmann gibt es seit 2012 eine konsequente Politik: Wenn du für den Staat arbeitest, werden wir zu Hause alles für dich tun, du bist sogar vor Strafverfolgung sicher, aber es gibt keinen Grund, ins Ausland zu reisen.

Ist das nicht kontraproduktiv für Putins Regime, das vor allem auf Bürokratie setzt? Der Politologe Abbas Galjamow meint dazu auf dem YouTube-Kanal Chodorkowski Live: „Putin ist es gewohnt, bei jedem Problem die Daumenschrauben anzuziehen. Er ist der Meinung, dass er mit ihnen nicht zimperlich sein muss, sie müssen hart angepackt werden, sonst werden sie ja alle weg, und wer bleibt übrig? Denn seine Sitzbank ist ziemlich leer“.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

COMMENTS