Roter Faden durch den ukrainischen Dschungel

Kein Wort dagegen zur Osterweiterung der NATO- und der EU, zur Abfolge der vom Westen inszenierten bunten Revolutionen in den Jahren 2003 bis 2006, zum Versuch die Ukraine und Georgien 2008 in die NATO aufzunehmen. Kein Wort über den expansiven Charakter der Nachbarschaftspolitik der EU. Kein Wort über die wiederholten Angebote Russlands, über die KSZE eine Sicherheitsarchitektur von Wladiwostok bis Lissabon aufzubauen.

Die sozialen Elemente des Maidan

Nur schwer unter dieser verzerrten Berichterstattung zu erkennen, entwickelt sich das andere Maidan-Feld weiter, jenes, das auch am Anfang des Kiewer Maidan stand: Die Forderungen nach Abschaffung der korrupten Oligarchen-Willkür, die das Land trotz seiner Reichtümer in unterentwickeltem Zustand hält und die Bevölkerung wirtschaftlich und sozial knebelt, der Ruf nach höheren Löhnen, nach Existenzabsicherung, nach Ausbau der sozialen Infrastruktur. Proteste dieses Charakters werden inzwischen vor allem in den östlichen und südlichen Gebieten deutlich, wo Menschen Klage über zerfallende wirtschaftliche Infrastruktur, Arbeitslosigkeit, nicht gezahlte oder niedrige Löhne und dergl. führen. Zorn über die um die Hälfte steigenden Gas-, Wasser- und Strompreise, über die Halbierung des Einkommens durch die Abwertung des Griva, Unmut über Verordnungen wie die, dass von jedem Handybesitzer, ein Solidarbeitrag für die Finanzierung des Heeres von Staats wegen einbehalten wird, kommen jetzt aktuell noch dazu.

Der Druck der Reformen, welche die EU und der IWF auf dem Weg zu zukünftigen Assoziierungsvereinbarungen versprochen haben, lässt auch für die Zukunft weitere Preoteste erwarten, zumal sie auch den Bodensatz der Maidan-Forderungen bildeten, die bis jetzt in keiner Weise erfüllt wurden. Auch in Kiew und auch im Westen der Ukraine ist die soziale Misere, ungeachtet der nationalistischen Beimischungen, die sich im Laufe der Maidan-Entwicklung verselbstständigt haben, ein treibendes Element der Unzufriedenheit gewesen. Wachsende soziale Proteste sind auch im Westen und in Kiew zu erwarten, denn anstelle der Regierung von Räubern hat die Ukraine nun eine von Erpressern bekommen. Das oligarchische Personal wurde lediglich ausgetauscht, ja mehr noch, mit Antritt der Übergangsregierung sind die Oligarchen aus dem Hintergrund, aus dem heraus sie davor ihren Einfluss wahrnahmen, nun als neue Gouverneure, als Gebietschefs, als Sonderbeauftragte, die offen anstelle der Kiewer Regierung entscheiden, als Präsidentschaftsanwärte selbst auf die politische Bühne getreten, nun aber noch dazu als offene Statthalter des „Westens“.

Die Übergangsregierung beabsichtigt offenbar, das lässt sich ihrem gegenwärtigen Kurs entnehmen,  die sozialen Konflikte ins nationalistische Fahrwasser abzulenken, um sie so als  „separatistisch“,  „pro-russisch“, „landesverräterisch“, „terroristisch“ u.ä.  denunzieren und mit diesen Begründungen unterdrücken zu können. Wohin diese Politik treibt, lässt ein Vorschlag von Julia Timoschenko erahnen, den Veteranen des 2. Weltkriegs die Durchführung der 9. Mai-Paraden zu untersagen, mit denen seit Kriegsende 1945 der Sieg der Roten Armee im „vaterländischen Krieg“ über den Faschismus gefeiert wurde. Es bedarf keiner großen Fantasie, wie diese Provokation auf die pro-russischen Bevölkerungsteile der Ukraine wirkt, auch wenn Frau Timoschenko ihren Vorschlag zurzeit nicht selbst umsetzen kann. Das ist eine Steilvorlage für russische Nationalisten.

Russlands Haltung

Ob Russland bereit ist, sich in die Ereignisse in der Ukraine militärisch einzumischen, muss sich zeigen. Zu hoffen ist, dass die russische Führung sich nicht dazu hinreißen lässt. Mit der Einverleibung der Krim hat die russische Regierung ein unmissverständliches Zeichen gesetzt, dass sie eine weitere Ausdehnung von NATO und EU nach Osten nicht hinzunehmen bereit ist.

Russlands Grundhaltung ist jedoch, allen Behauptungen der westlichen Propaganda zum Trotz, in ihrer Grundlinie defensiv. Die Eurasische Union, vom Westen lange belächelt, nun plötzlich als aggressive Konkurrenz wahrgenommen, ist von Seiten Kasachstans, Russlands und Weißrusslands nicht als Verdrängungsprojekt gegenüber der EU projektiert, sondern als tendenzieller Kooperationspartner in einem sich zwischen den Polen China und Europa plural neu ordnenden Eurasien als Teil einer multipolar gedachten Weltordnung.

Die Eingliederung der Krim in die russische Föderation wäre mit Sicherheit nicht erfolgt, jedenfalls nicht in dieser Form und nicht in zu diesen Kosten, wenn Russland sich angesichts des Umsturzes in der Ukraine nicht zu diesem Schritt als Präventivmaßnahme zum Schutz der Schwarzmeerflotte veranlasst, gar gezwungen gesehen hätte. Wie weit auch die Sorge um die Sicherheit der Bevölkerung der Krim eine berechtigte Rolle gespielt haben könnte, stellt sich aus heutiger Sicht vielleicht anders dar als direkt nach dem Umsturz in Kiew. Die Krim blieb von den aktuellen Eskalationen verschont, bis jetzt jedenfalls.

Tatsächlich bringt die Einbeziehung der Krim in den russischen Staatsverband für Russland erhebliche Kosten – politische und ökonomische. Russlands Zurückhaltung gegenüber der gegenwärtigen Kiewer Regierung, die über indirekte Einflußnahme, von deren Realität man angesichts der offenen Grenzen zwischen  Russland und der Ukraine  ausgehen darf, und eine Drohkulisse an der Grenze nicht hinausgeht, dürfte Ausdruck der Tatsache sein, dass Russland sich die gärenden sozialen, tendenziell revolutionären Impulse des ukrainischen Protestes nicht ins eigene Land ziehen will. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil russische und ukrainische soziale Wirklichkeit nicht allzu weit auseinander liegen, auch wenn Putin es geschafft hat, die Oligarchen an die Leine korporativer Aufsicht zu legen und das Lebensniveau in Russland zur Zeit wesentlich höher liegt als in der Ukraine.  Wenn Überlegungen der russischen Führung zutreffen, die traditionelle Flugzeugparade zum 9. Mai auf der Krim durchzuführen, könnte es allerdings auch auf der Krim mit dem Frieden bald vorbei sein.

Irgendwo zwischen energischem Eingreifen auf der Krim und Zurückhaltung trotz aller provokativen Aufforderungen des Westens an die Adresse Russlands, sich gefälligst deeskalierend einzumischen, während gleichzeitig angeblich drohende russische Interventionen mit Sanktionen belegt werden, liegt das Eingreifen des russischen Menschenrechtlers Wladimir Lukin in die Verhandlungen zur Freilassung der in Slawjansk festgesetzten Gruppe von deutschen und europäischen Militärs.

Lukins Erfolg zeigt, dass Russland sehr wohl Einfluss nehmen kann, wenn es will – dies aber nur tut, wenn es dabei nicht sein Gesicht verliert. In der Frage des Gesichtsverlustes steht Russlands Regierung zwischen ihren Landsleuten, die einen Einsatz zum Schutz russischer Interessen und russisch sprachiger Menschen fordern und der internationalen Staatengemeinschaft, der gegenüber Russland nicht als Expansionist erscheinen will, sondern als derjenige, der für eine multipolare Ordnung der Welt eintritt. Das ist eine strategische Perspektive, die Russland auf Anregung Chinas seit den Perestroika-Tagen Michail Gorbatschows verfolgt.

Kurz, Russland ist zu Runden Tischen bereit, die auf Lösungen jenseits einseitiger Einflussnahmen zielen: Gespräche zwischen den beiden Maidan-Parteien in der Ukraine, Gespräche zwischen allen Konfliktbeteiligten unter Vermittlung der OSZE, Gespräche zwischen den großen „playern“ – wenn sie auf Augenhöhe unter Achtung gegenseitiger Interessen stattfinden.

Die Frage ist einfach, ob auch die übrigen Konfliktparteien dazu bereit sind. Liest man den neuesten Aufruf zum Dialog, den der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier soeben in der Presse veröffentlicht hat, könnte man Hoffnung darauf haben; liest man seinen Aufruf vor der Folie der Vereinbarungen zwischen Obama und Merkel, schrumpft Steinmeiers Aufruf zum Feigenblatt.

Eins ist klar, solange ein US-geführter Westen glaubt, weiter mit Sanktionen gegen Russlands angeblich drohende Interventionsabsichten vorgehen und die Kiewer dagegen durch CIA-Präsenz und Militärhilfen aufrüsten zu müssen, wird es keine Deeskalation geben. Diese Art der Deeskalation sieht eher nach einer aus anderen Zeiten bekannten „Vorwärtsverteidigung“ aus.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

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