„Radikalismus auf beiden Seiten“- Alexander Tsypkin über Proteste in RusslandFoto © Archiv Alexander Tsypkin

„Radikalismus auf beiden Seiten“- Alexander Tsypkin über Proteste in Russland

Alexander Tsypkin ist der neue Star auf dem russischen literarischen Olymp. Der vielgelobte Blogger und Facebook-Autor hat mit seinem ersten Buch „Frauen im fortschrittlichen Alter“ Furore gemacht, sein zweites Buch wurde als TV-Serie verfilmt. Seine satirischen Facebook-Posts sorgen regelmäßig für heftige Diskussionen. russland.NEWS druckt mit freundlicher Erlaubnis des Autors seinen Text über die letzten Ereignisse in Russland.

„Ich glaube, es gibt eine 80-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass die wilden Neunziger [eine vom Chaos bezeichnete Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion – russland.NEWS] wiederkommen werden. Putin ist sterblich, und das derzeitige System ist zu krankhaft von ihm abhängig. Sollte er auf revolutionäre Weise zu Fall gebracht werden, wird es grauenhaft sein. Es gibt nur eine 20-prozentige Chance, dass die Behörden mit Reformen beginnen. Mir scheint, dass es dafür sinnvoller wäre, wenn Nawalny freikäme. Und ich spreche nicht von rechtlichen Finessen, über die wir endlos diskutieren können. Es geht nicht um Sympathien oder Antipathien, es geht um die Zukunft. Ich würde lieber mit Nawalny auf dem Stimmzettel zu den Wahlen gehen und friedlich gegen ihn stimmen.

Es ist an der Zeit, all jenen zu antworten, die mich mit unterschiedlichen Graden von Hysterie und Drohungen dazu drängen, zwischen „weiß“ oder „rot“ zu wählen. Da können Sie noch lange darauf warten. Ich versuche seit Jahren, diesen unseren ewigen Bürgerkrieg nach besten Kräften zu beenden. Es ist an der Zeit, dass wir uns selbst treu bleiben. Die Menschen neigen im Allgemeinen dazu, sich der Menge anzuschließen und nicht mehr zu analysieren, was passiert. Es ist irgendwie einfacher. Sie brauchen nicht zu denken. Der Anführer entscheidet für uns, wer Freund und wer Feind ist. Genau das haben wir heute. Beides ist kontraproduktiv und wird durch einen völligen Verlust des Bezuges zur Realität verursacht.

Beginnen wir mit der Opposition. Es wird keine Revolution geben. Keine Illusionen. Von den wirklich entscheidenden Gruppen in den Sicherheitsdiensten, der regionalen Elite, der Geschäftswelt und den Regierungsbeamten wird niemand die Revolution unterstützen. Sie könnten sogar den Kreml stürmen und was dann? Lesen Sie Lenin.

Auf der anderen Seite wollen die Hardliner in der Regierung nicht wahrhaben, dass eine neue Generation erwachsen geworden ist. Sie will anders leben und es ist unmöglich, sie komplett in Lager zu stecken. Und jedes Jahr werden aus hunderttausenden Jugendlichen Erwachsene, die Wahlen und nicht Knüppel auf dem Kopf erwarten. Gleichzeitig, so wie niemand eine Revolution will, ist auch keine von diesen Gruppen bereit, uns in Nordkorea zu verwandeln. Wir müssen also um ehrliche Wahlen verhandeln. Eine große Masse von Menschen schwankt. Und Radikalität wird den Wähler in die Arme des Gegners treiben.

Unangemessene Polizeigewalt bedeutet zusätzliche Stimmen für die Opposition, aber die Schikanen gegen Slepakow [ein in Russland bekannter Satiriker, der ein Lied gegen Proteste geschrieben hat] bedeuten auch zusätzliche Stimmen für den regimetreuen Kandidaten. Jeder erinnert sich an den Bolschewismus. Auch Bolschewiken begannen mit Intoleranz und Slogans über Gerechtigkeit. Wir brauchen eine Art von Frieden, aber die Initiative sollte von den Behörden ergriffen werden, wenn sie das Land zusammenhalten und nicht in Terror abgleiten wollen. Und hören Sie auf, Leute zu schlagen. Wenn auch quasi per Gesetz. Ja, im Westen können sie bei Kundgebungen härtere Maßnahmen ergreifen. Aber dort gibt es keine solche Spaltung der Gesellschaft. Und die Demonstranten dort sind ausgegrenzte Menschen, die meistens nach Chaos dürsten. Und wer nicht an den Konsens glaubt – sollte eine Fremdsprache lernen. Für die Auswanderung. Wenn irgendwelche Radikalen gewinnen, wird es ein Massaker geben. Und haben Sie keine Angst, mit ihrem eigenen Kopf zu denken.

Was mich am meisten erstaunt, sind Mitbürger, die wirklich glauben, dass der Westen hart daran arbeiten wird, uns eine bessere Zukunft zu bringen. Wir sind Konkurrenten auf dem geopolitischen Parkett. Es ist jeder für sich. Wenn Hitler nicht gegen Alle in den Krieg gezogen wäre, hätten alle ein Auge zugedrückt, auch beim Holocaust. Und das taten sie auch. Das Volk der Vereinigten Staaten hat Biden gewählt, um die Interessen der USA zu wahren. Und das tut er auch. Wenn Putins ewige Herrschaft im Interesse der USA ist, wird Biden ihn persönlich mit Klebeband am Thron festkleben, den Palast in Gelendschik Rotenberg wegnehmen, ihn von der NSA zu Ende bauen lassen und offiziell Wladimir Wladimirowitsch schenken, Beyonce in der Aquadiskothek singen lassen und Nawalnys YouTube-Kanal blockieren. Schließlich sind die Vereinigten Staaten irgendwie mit Saudi-Arabien befreundet, wo Menschen übrigens allein wegen Hinweise auf ihre Beteiligung an Kundgebungen enthauptet werden.

Es ist traurig, grausam, vernünftig und rational. Wir müssen uns also selbst um unsere eigenen Probleme kümmern. Und übrigens, eine schlechte Nachricht für Anhänger von Revolutionen und der Idee „der Westen wird uns helfen“. Niemand auf der Welt will einen echten Aufruhr in einem Land, das Tausende von Atomsprengköpfen besitzt. Ich fürchte, wenn wir einen echten Bürgerkrieg haben, wird der Westen bereit sein, sogar Stalin auszugraben und ihn in den Kreml zu schicken, damit sich die Welt beruhigt und der Atomkoffer nicht mehr auf eBay herumsteht.

Hier wäre es logisch, sich aufzuregen und zu sagen, wenn der Westen den Protest aktiv unterstützt, so ist es für ihn profitabel! Ich denke, es ist prosaischer: Die Unterstützung eines Protestes in Russland ist nichts anderes als ein tolles Thema für die interne PR in jedem Land, besonders in der Situation mit der Pandemie und den Massenimpfungen. Anstatt auf Kundgebungen unnötige Fragen zu stellen, schaut der westliche Durchschnittsbürger nun bei einem Bier eine TV-Serie darüber, was in Russland abgeht. Und die Wähler an den Urnen werden es zu schätzen wissen, dass ihre Regierungen die Elfen im Kampf gegen die Orks unterstützen. Alle Polittechnologen sind prinzipienlos gleich.“

 

 

 

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