„Politisierung der Wissenschaft“ – Professor Fyodor Urnov von Universität Berkeley über Genetik und Coronavirus

„Politisierung der Wissenschaft“ – Professor Fyodor Urnov von Universität Berkeley über Genetik und Coronavirus

Professor für Genetik der University of California, Berkeley Fyodor Urnov (Abteilung für Molekular- und Zellbiologie) gehört nach Angaben von Thomson Reuters zu den einflussreichsten Wissenschaftlern der Welt («The World’s Most Influential Scientific Minds», 2014). russland.NEWS sprach mit dem gebürtigen Moskauer über die Möglichkeiten der Genetik und die Hoffnung auf einen schnellen Impfstoff gegen das Coronavirus.

Professor Urnov, lassen Sie uns über die Möglichkeiten der Genetik sprechen. Heute kann man für nur 99 Dollar seine DNA entziffern und eine Liste potentiell gefährlichen Prädispositionen, Leiden und genetischen Veranlagungen herausfinden, ob man zum Beispiel eine Glatze bekommt. In seinem Buch „Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen” schreibt Yuval Harary: „Erkenne dich selbst“ war nie leichter oder billiger“. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?

Professor Urnov: Ist Kernenergie gut oder schlecht? 1946 würde die Antwort auf diese Frage eindeutig lauten: Die ist schrecklich. Wenn Sie im Jahr 2020 nach Frankreich gehen, können Sie sehen, dass das ganze Land mit Atomkraftwerken ausgestattet ist. Das heißt, die Entdeckung der Struktur des Atoms zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte neben der Röntgenstrahlung auch zu Atomwaffen. Harary hat also völlig Recht. Die erste menschliche DNA wurde in den späten 70er und frühen 80er-Jahren entziffert. Vollständig wurde sie in den späten 90er-Jahren entschlüsselt. Damals kostete es etwa vier Milliarden Dollar und dauerte mehrere Jahre. Um das menschliche Genom heute richtig und vollständig zu entziffern, bräuchte man zwar immer noch 1000 Dollar. Aber es besteht kein Zweifel, dass der Preis in den kommenden Jahren sinken wird. Und die Frage ist, was werden wir damit anfangen?

Harary schreibt weiter, dass, weil anstelle menschlicher Arbeitskräfte Algorithmen treten, einige Eliten zu dem Schluss kommen können, „es nichts bringt, die Gesundheitsversorgung für Massen nutzloser Armer zu verbessern“. Im 20. Jahrhundert brauchte man Millionen gesunde Arbeitskräfte. Heute machen es Roboter …

Professor Urnov: Die Frage ist, wie sich Wissenschaft, Politik und öffentlicher Diskurs überschneiden. Zum Beispiel können wir jetzt mit Hilfe der Genetik das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen genau beeinflussen. Indem wir einer Person im Alter von 20 bis 25 Jahren spezielle Pillen verabreichen, können wir das Risiko solcher Krankheiten um achtzig Prozent senken. Aber es ist sehr teuer. Also, für wen entwickeln wir alle Technologien in der Genetik? Übrigens, die Robotisierung von Prozessen findet nicht nur in der Industrie statt. In meinem Coronavirus-Diagnoselabor habe ich 26 Mitarbeiter. Wir haben einen Roboter für 650.000 Dollar gekauft, und vielleicht können wir dadurch das wissenschaftliche Personal auf acht Personen reduzieren. Eine moralische Gesellschaft hat die Verantwortung gegenüber allen Mitgliedern der Gesellschaft gleichermaßen. Und dann spielt es keine Rolle, wie viel Arbeitskraft wir brauchen und wer die Menschen sind – große Roboterkonstrukteure oder Arbeiter, die diese Roboter vom Lastwagen ins Labor bringen. Ich glaube, dass diese Utopie in den skandinavischen Ländern schon gelebt wird. In den Vereinigten Staaten jedoch gibt es eine absolute Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung. Dutzende Millionen Menschen haben einfach keinen Zugang zur Medizin. In Kalifornien, der Heimat des Silicon Valley, wo Riesen wie Google und Apple ansässig sind, gibt es ganze Gebiete, in denen praktisch keine Gesundheitsversorgung existiert. Das heißt, dass die Menschen nirgendwo hingehen können, um sich auf Coronavirus testen zu lassen. Ich leite ein Labor, das diese modernen Bettler mit Mitteln von wohltätigen Organisationen testet. Und die Infektionsrate unter ihnen ist viel höher! Im San Francisco Valley ist im Durchschnitt nur ein Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert, unter den Armen sind es zwanzig Prozent!

Zum Thema Pandemie. Alle Länder streiten sich über Zahlen und verdächtigen sich gegenseitig, dass es zu wenig oder zu spät getestet wird, dass die Statistik der Sterblichkeit nicht stimmt usw. Warum geschieht das?

Professor Urnov: Das sind leider die Folgen der Politisierung der Wissenschaft. Im 20. Jahrhundert gab es dafür viele Beispiele. Vor 30 Jahren verbot Präsident Bush Forschung an Stammzellen. Es war politischer Wahnsinn, den wir bis heute auszulöffeln haben. In der Sowjetunion wurde die Genetik praktisch zerstört, und die Wahnvorstellungen von Lysenko wurden zum Dogma. Was passiert nun mit dem Coronavirus? Es gibt gewisse Meinungsverschiedenheiten zwischen Ärzten, Virologen und Wissenschaftlern in verschiedenen Ländern, die immer bestehen, wenn es um ein wissenschaftlich-medizinisches Problem geht. Um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, brauchen wir Daten. In der Epidemiologie kommen die Daten allmählich. In den USA begann das Coronavirus Mitte Februar, was bedeutet, dass wir nur Daten von etwa vier Monaten haben. Deshalb müssen wir, Wissenschaftler Schlussfolgerungen aus unvollständigen Daten ziehen, so dass alles, was wir sagen, etwas relativ ist: „Es scheint mir, dass höchstwahrscheinlich …“ Und einem anderen Mikrobiologen oder Virologen scheint etwas anderes. Hier geht es nicht um Politik, aber es wird stark politisiert. In den USA gibt es einen politischen Auftrag, dass sich die Situation auf eine bestimmte Art und Weise entwickelt und dass sie unter Kontrolle ist. In unserer digitalen Welt kann jeder Mensch mit einem Fingerdruck auf einem Smartphone Informationen abrufen. Das Paradoxe aber ist, dass die Menschen dadurch nicht besser informiert sind, und zumindest in den USA hängt die Haltung gegenüber der Pandemie von politischen Ansichten ab. Die Anhänger von Präsident Trump leben in einem Raum, in dem das Coronavirus nicht zu existieren scheint. Wissenschaftler, die in einer Welt der Fakten leben, können das nicht verstehen.

Gut, sehen wir uns die Fakten an. In Russland sind fast 15 Prozent der Infizierten Ärzte. Warum?

Professor Urnov: Wenn Sie fragen, ob solche Statistiken normal sind, ist die Antwort einfach – nein. Aber Russland ist hier absolut keine Ausnahme. Die gleichen Zahlen wurden an der Ostküste der Vereinigten Staaten, in Städten wie New York und Boston beobachtet. Dies sind Folgen der Tatsache, dass kein westliches Gesundheitssystem auf einen Ausbruch dieses Ausmaßes vorbereitet war. Der Leiter eines großen diagnostischen Labors sagte mir: „Sehen Sie, wir können auf verschiedene Krankheiten wie AIDS oder Hepatitis testen, auch auf das Coronavirus. Aber wir sind nicht für eine Situation vorbereitet, in der wir 10.000 Coronavirus-Tests pro Tag durchführen müssen“. Was wäre andererseits, wenn Ärzte gleich zu Beginn der Epidemie gefragt würden, ob Sie das für ernst halten oder nicht? Es gab keinen Zusammenschluss zwischen Politik und Medizin. In Ländern, in denen Ärzte angehört wurden, wie zum Beispiel Neuseeland, Singapur oder Island, wurde nicht nur Alarm geschlagen, sondern das ganze Land über Nacht unter Kriegsrecht gestellt. In den Vereinigten Staaten ist das leider nicht geschehen, und der Präsident sagte von allen Tribünen aus, dass alles in Ordnung sei. Die Meinung der Epidemiologen wurde einfach ignoriert.

Carl Freestone und seine Kollegen versuchen anhand ihrer Modelle die relativ niedrige Sterblichkeitsrate in Deutschland im Vergleich zu Großbritannien zu erklären. Es scheint jetzt so zu sein, dass die niedrige Sterblichkeitsrate in Deutschland nicht auf ihre hervorragenden Testfähigkeiten zurückzuführen ist, sondern auf die Tatsache, dass der durchschnittliche Deutsche weniger wahrscheinlich infiziert wird und stirbt als der durchschnittliche Brite, heißt es.

Professor Urnov: Es ist eine alte Tradition, den Unterschied zwischen großen Gruppen von Menschen mit Genetik zu erklären. Natürlich gibt es gewisse Anzeichen, die wirklich eine genetische Grundlage haben. Zum Beispiel Laktoseintoleranz bei den Chinesen oder die Fähigkeit, in 10.000 Metern Höhe über dem Meeresspiegel zu leben, bei den Tibetern. Tatsächlich gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass irgendein europäisches Volk eine genetische Veranlagung für Infektionen hat. Es gibt jedoch ein gut funktionierendes Gesundheitssystem und das Vertrauen der Öffentlichkeit in dieses System. Darüber hinaus haben die Tests in Deutschland früh begonnen und das Tracking-System für Personen, die mit infiziertem Coronavirus in Kontakt gekommen sind, funktioniert gut. In anderen Ländern wurde nichts davon getan. Hier ist das Ergebnis. Natürlich ist es leicht, die Genetik zu beschuldigen: Im Land A ist die Sterblichkeit niedriger als im Land B, was bedeutet, dass Menschen unterschiedliche Gene haben. Eine andere Sache ist, dass es eine seltene genetische Mutation gibt, die beispielsweise vor AIDS schützt. Es gibt jedoch keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass die deutsche Bevölkerung eine Mutation aufweist, die sie vor dem Coronavirus schützt, die Franzosen aber nicht.

Professor Urnov, diese Frage muss ich Ihnen einfach stellen: Allgemeine Impfung, wann sollten wir damit rechnen und was dürfen wir davon erwarten?

Professor Urnov: Alle wünschen sich, dass der Impfstoff schon heute da wäre, jeder würde geimpft und das Leben würde einfach weitergegangen wie zuvor. Ein nachvollziehbarer Wunsch. Es besteht jedoch die Gefahr, dass man dabei medizinische Dummheit begeht. Standardimpfungen sind im Laufe der Jahre entwickelt worden. Es gibt keinen Präzedenzfall für die Einführung einer Impfung in einem Jahr. Es gibt jetzt eine Reihe neuer Technologien, wie zum Beispiel eine Technologie, Impfungen auf ihre Sicherheit schnell zu testen. Diese Tests sind jetzt im Gange. Aber die Hauptschwierigkeit liegt woanders. Im Gegensatz zu Impfungen gegen Krankheiten wie Diphtherie oder Pocken, für die langfristige Daten über die Sicherheit und Wirksamkeit vorliegen, gibt es solche Daten im Falle des Coronavirus nicht. Solche Daten werden wir erst in fünf Jahren haben. Und danach werden wir sehen, ob die Impfung funktioniert hat oder nicht. Ich bin nicht gegen Hochgeschwindigkeitsimpfungen, aber ich bin dagegen, darauf zu hoffen, dass sie die Menschheit retten. Ich will kein Pessimist sein. Aber wie Sie wissen, ist ein Pessimist ein gut informierter Optimist. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass nach zwei Monaten, nach dem alle geimpft werden, alles wieder normal sein wird.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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