Polen und Ukraine: Fenster mit Blick auf Irrenhaus

Ich habe meine historischen und Familiengründe für eine gewisse Skepsis gegen die Ukraine. Ich ermahne mich selbst zwar zu einer objektiven Einstellung, das ist aber nicht leicht. Ich weiß nicht, ob ich mehr sehe als meine Landsleute, meine Betrachtungsweise ist aber anders. Und, hol’s der Teufel, ich verstehe die Welt nicht mehr…

Ich bin soeben aus der Ukraine zurückgekehrt. Ich unterrichte dort Studenten. Natürlich sprach ich mit ihnen auch über die EU-Hoffnungen ihres Landes. Warum wollen sie eigentlich in die EU? Weil ihnen dann Visafreiheit winkt. Das sagten alle – und ihr Argument ist stark. Und wie sind ihre Erwartungen im Wirtschaftsbereich? Sie rechnen mit höheren Löhnen und Gehältern, so die Antwort. Auf mein Gegenargument, die EU werde ihre Löhne nicht erhöhen, reagierten sie misstrauisch.

Was erwarten sie in Sachen Infrastruktur? Die Studenten hoffen, dass die Straßen repariert werden. Meine These, dass sich die Ukrainer mit dieser Reparatur selbst beschäftigen könnten, wurde ebenfalls nicht akzeptiert. Und schließlich fragte ich nach ihren politischen Erwartungen. Die Antwort: Präsident Janukowitsch muss zurücktreten! Wer ihn ablösen soll, konnte die Gruppe nicht entscheiden (die Ex-Staatschefs Kutschma und Juschtschenko sowie Oppositionsführerin Timoschenko wurden „nominiert“, aber im Laufe der Diskussion abgelehnt). Und warum muss Janukowitsch weg? Weil er nicht in die EU will.

Keiner meiner Studenten ist allerdings bereit, nach dem EU-Beitritt mehr für Benzin und Gas zu zahlen. Wie diskutierten weiter – und nach einer halben Stunde ist die Europa-Begeisterung dieser jungen Menschen aus der Westukraine etwas geschrumpft. Verschwunden ist sie allerdings nicht, und zwar dank der winkenden Visafreiheit. Würde Janukowitsch also die Visapflicht abschaffen, würde man wohl weniger Gründe für seinen Rücktritt finden. Die Nachricht, dass die Franzosen und die Deutschen die Ukraine nicht in der EU sehen wollen, hat die Studenten unangenehm überrascht. Eine weitere Überraschung war die Erläuterung, dass die Visapflicht auch ohne EU-Beitritt des jeweiligen Landes abgeschafft werden kann. Viele Nicht-EU-Länder haben das bereits erlebt, ihre Bürger dürfen ohne Visa in die Europäische Union reisen.

Polens Haltung zum eventuellen EU-Beitritt der Ukraine ist auch nicht ganz erklärlich. Das schwerste Problem der Polen ist die Arbeitslosigkeit, die mittlerweile 13,3 Prozent erreicht. Aus diesem Grund schuften mehrere Millionen Polen im Ausland. Wird die polnische Arbeitslosenrate zurückgehen, falls die Ukraine der EU beitritt? Natürlich nicht. Sie wird sogar steigen. Wird sich vielleicht die Situation der Polen am europäischen Arbeitsmarkt verbessern? Das auch nicht. Es wird dagegen schwerer fallen, einen Job zu finden, die Löhne werden zurückgehen. Dafür wird Polen nach dem ukrainischen EU-Beitritt seine Position als wichtigster Hilfeempfänger der EU einbüßen.

Warum wollen wir dann, dass die Ukraine EU-Mitglied wird? Weil sie den Russen entrissen werden muss! Wozu eigentlich? Das liegt doch nicht in unserem Interesse? Einfach so, um die Russen zu ärgern.

Ich verstehe nicht die polnischen Politiker. Sie sagen, ein EU-Beitritt helfe der Ukraine, Demokratie zu erlangen. Moment mal! Als wir der Ukraine ein Assoziierungsabkommen anboten, stufen wir sie schon als demokratisches Land ein. Oder ist die ukrainische Demokratie seitdem irgendwohin ausgewandert? Alle sagen, man müsse mit der Ukraine reden. Dabei erhebt der polnische Außenminister Sikorski öffentlich Korruptionsvorwürfe gegen den ukrainischen Staatschef Janukowitsch und gegen das ukrainische Kabinett. Als ich das las, dachte ich, Sikorski sei wohl betrunken. Aber nein, seine Äußerung wurde nicht dementiert. Hat er also die Position der Regierung präsentiert? Oder war das eine ausgeklügelte Einladung zur Diskussion?

Der polnische Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski hielt eine Rede vor Demonstranten auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew. Eigentlich gilt er als EU-Skeptiker, doch nun mutierte er plötzlich zu einem EU-Enthusiasten. Als die Menschenmenge seinen Auftritt begrüßte, freute sich Kaczynski wie ein Kind. Leider erklärte ihm niemand, dass zu den Begeisterten auch die Organisation ukrainischen Nationalisten (OUN) und die Ukrainische Aufstands-Armee (UPA) gehörten. Diese Organisationen sind für Massenmorde an mehr als 100.000 Polen während des Zweiten Weltkrieges verantwortlich. Und ausgerechnet Kaczynski hatte vor fünf Monaten vom polnischen Parlament gefordert, jene Verbrechen als Genozid einzustufen.

Präsident Janukowitsch entzog einst dem UPA-Anführer Stepan Bandera den Titel „Held der Ukraine“. Diesen Titel hatte Bandera dem „proeuropäischen“ Staatschef Juschtschenko, dem Vorgänger von Janukowitsch, zu verdanken. Und Juschtschenko war zum Teil dank der Unterstützung des damaligen polnischen Präsidenten Kwasniewski Präsident geworden. Nach ja, mit Banders Ehrung fand Juschtschenko einen passenden Weg, um sich bei den Polen zu bedanken…

Sein Vorgänger Kutschma war oft als Diktator gebrandmarkt worden. Trotzdem genoss er Unterstützung durch Kwasniewski. Dies soll man wohl nicht mit der Tatsache in Zusammenhang bringen, dass Kwasniewskis Stiftung von Kutschmas Schwiegersohn finanziert wurde – die Spenden waren Millionen US-Dollar schwer. Oder ist diese Bemerkung von mir fehl am Platz? Wir wissen ja (s. Äußerung des polnischen Außenministers), dass Janukowitsch der Korrupteste ist. Niemand anders als er. Nicht einmal Ex-Regierungschefin Timoschenko, die jetzt wegen Korruption in Haft sitzt.

Was sich in Polen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Streit abspielt, lässt mich an Bücher zurückdenken, wo Drogeneffekte geschildert werden. Würde ich als polnischer Patriot auf die Idee kommen, Putin zu ärgern, sollte ich offenbar in Liebe zu Timoschenko entbrennen. Im Ukraine-Streit geht es ja immer um Putin und Russland. Übrigens, Stichwort Russland: Der polnische Staatssender TVP schickt einen neuen Korrespondenten nach Moskau – und dieser spricht kein Russisch. Sind Sie erstaunt? Dann haben Sie nicht Recht. Der Moskau-Korrespondent braucht ja nicht, die Russen zu verstehen. Er muss sie überhaupt nicht hören. Hauptsache, er redet über sie. Was genau soll er reden? Das, was man von ihm erwartet.

Darczewski Cyprian/Stimme Russlands

Die Meinung des Autors stimmt nicht unbedingt mit der Haltung der Redaktion überein.

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