Pjotr Alexejewitsch Kropotkin. Memoiren eines Revolutionärs. Zweiter Band [Video]

Der zweite Teil von Kropotkins Memoiren beginnt mit seiner Rückkehr von einem mehrjährigen, selbst gewählten Aufenthalt aus Sibirien. Als er, immer noch ein junger Offizier mit guten Karriereaussichten im Sankt Petersburg der 1860iger ankommt, stellt er sehr schnell fest, dass die zarten Reformansätze, die bei seiner Abreise wegen der formellen Abschaffung der Leibeigenschaft noch vorherrschte, verflogen war wie der Frühlingswind und eine düstere Atmosphäre der politischen Reaktion herrschte. Obwohl Kropotkin die Entscheidung, den Militärdienst zu quittieren, um eine Wissenschaftslaufbahn einzuschlagen, bereits getroffen hatte, so wurde sie durch die politischen Umstände noch bekräftigt.

In der darauffolgenden Zeit dominierten das Studium der Naturwissenschaften ebenso wie eine gezielte Politisierung. Dabei spielten zwei Begriffe, die damit zusammenhingen, eine große Rolle. Zum einen die Semstwos, auf dem Land gebildete Selbstverwaltungsorgane, die für die Entwicklung nach der Befreiung von der Leibeigenschaft gedacht waren und die Selbstorganisation und Selbstbestimmung auf dem Land zum Ziel hatten. Und zum anderen die Narodniki, die Volksfreunde, eine Bewegung, in der sich viele Menschen aus den gebildeten Schichten versammelten, um die Befreiung der Bauern und ihre Organisation in den Semstwos zu unterstützen.

Dass Kropotkin sich dort engagierte, war für ihn folgerichtig, führte jedoch auch zu einem Leben, das einen illegalen Teil hatte. Nach einer Reise in den Westen, genauer gesagt die Schweiz, wo er die politischen Kräfte der Sozialistischen Internationale traf und studieren konnte, wurden die politischen Anschauungen in Bezug auf einen Systemwechsel gefestigt und gleichzeitig der Blick des zaristischem Geheimdienstes auf ihn geschärft. Nach seiner Rückkehr nach Stankt Petersburg dauerte es nicht lange bis zur Festnahme und er wurde ohne Prozess inhaftiert. Es folgte die berüchtigte Peter und Pauls Festung. Nach zwei Jahren floh er über Schweden nach England. Es folgten Exilaufenthalte in Frankreich, der Schweiz, Belgien und wieder England.

In dieser Zeit, auf die Kropotkin in den Memoiren von der Warte des gerade begonnenen 20. Jahrhunderts zurückblickt, spielen vor allem seine praktische politische Betätigung und die damit einhergehende Theoriebildung eine entscheidende Rolle. Kropotkin sieht die Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung in einen Flügel, der auf die Eroberung der Staatsmacht und den Zentralismus politischer Interventionen setzt und den anderen, anarchistischen, der von der ruralen und munizipalen Selbstorganisation ausgeht, für den er sich entscheidet.

Die Leserschaft erfährt, aus welchen Motiven die Schriften stammen, die mit ihm bis heute identifiziert werden: Die Eroberung des Brotes; Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt; Die große französische Revolution… Und Kropotkin berichtet über die Zeitung, deren Mitherausgeber er war und die eine zunehmend große Rolle jener Zeit spielen sollte: Le Révolté.

Dass seine Aktivitäten in der seit dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 auch in Westeuropa vorherrschenden reaktionären Atmosphäre wieder Geheimdienste und Spitzel auf den Plan riefen, scheint folgerichtig. Diesmal verbüßte Kropotkin wegen nicht bewiesener, aber unterstellter terroristischer Aktivitäten eine mehrjährige Haftstrafe in Frankreich, als deren Fazit – da scheinen die Fähigkeiten des Wissenschaftlers durch – ganz nebenbei eine Soziologie des Strafvollzugs in der bürgerlichen Gesellschaft ebenso entstehen wie ein Sozio- und Psychogramm des Spitzels und Geheimagenten.

Die Memoiren Teil II sind spannend zu lesen und sie geben einen guten Einblick in die Entstehungsgeschichte des politischen Anarchismus jener Zeit. Die Lektüre sei allen empfohlen, die sich ein Bild darüber und über die russische Gesellschaft im 19. Jahrhundert machen wollen. Es wird Sie bereichern und dabei helfen, das holprige Deutsch der Übersetzung zu verzeihen.

[Gerhard Mersmann]

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