Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)
Fürst und Anarchist, dieser Widerspruch klingt schon seltsam genug. Aber Pëtr Alekseevič war noch mehr.
Er war – aus einem der ältesten Adelsgeschlechter Russlands stammend – Kammerpage seiner Majestät des Kaisers Alexander II., Offizier der Berittenen Amur-Kosaken in Sibirien, oro- und kartografischer Forscher in Sibirien und Finnland (dessen Erkenntnisse noch heute Gültigkeit besitzen) und als Wissenschaftler Sekretär einer Sektion der Russischen Geografischen Gesellschaft (deren Gesamtvorsitz er ablehnte, da er sich entschlossen hatte, gesellschaftlich tätig zu werden), er war Reformer, er war Gefangener in der Peter-Pauls-Festung, er war Revolutionär, er war als Sozialist Theoretiker des Anarchismus und er war Schriftsteller.
Als Kammerpage folgte er dem Kaiser ein Jahr lang auf Schritt und Tritt, um persönliche Anordnungen entgegenzunehmen, und so lernte er das Leben bei Hofe aus allernächster Nähe kennen; als politischer Gefangener lebte er später auf Befehl desselben Kaisers im berüchtigten Kerker der Peter-Pauls-Festung, in dem schon viele große Männer vor ihm gefoltert und hingerichtet worden oder einfach verfault waren – und viele noch folgen würden. Nur durch eine waghalsige Flucht entging er ihrem Schicksal.
Als Offizier der Amur-Kosaken arbeitete er zu Beginn der Regierungszeit Alexanders II. an Reformen, die dann doch nicht umgesetzt wurden, und machte teils abenteuerliche Expeditionen durch Sibirien und die Mandschurei – später lernte er als Forscher die Einsamkeit des arktischen Winters in Sibirien, Schweden und Finnland kennen. Nach seiner Flucht aus dem Gefängnis in den Westen wurde er zum gefeierten Sozialisten – und Gegner von Karl Marx –, lernte aber auch die französischen Gefängnisse kennen. Nach der Februarrevolution 1917 wurde ihm, wenngleich Gegner Lenins, von den Massen in St. Petersburg ein triumphaler Empfang bereitet; sein Begräbnis am 8. Februar 1921 geriet gegen den Willen der Regierung zur letzten großen Massenkundgebung von Regimegegnern in der damals neuen Sowjetunion: Ein Meer von schwarzen Fahnen, die Fahnen der Anarchisten, ließen die roten ganz einfach untergehen, nahezu hunderttausend Menschen folgten dem Sarg.
»Anarchist«. Dieses Wort heute zu hören, bereitet zumindest Unbehagen, bei manchem wird gar der Ruf nach Polizei und Staatsschutz laut (der auch mit Sicherheit sofort „auf der Matte stünde“). Aus Unwissen wird Anarchismus oft mit Terrorismus und Chaos gleichgesetzt, man denkt sofort an RAF, Stadtguerilla, Rote Brigaden und andere politische Terrororganisationen. Aber das Wort hat durch die Ereignisse in der öffentlichen Wahrnehmung einen unfreiwilligen Bedeutungswandel durchgemacht: Der Anarchismus war und ist nichts weniger und nichts mehr als eine Teilbewegung und -philosophie des Sozialismus; er wird auch libertärer Kommunismus genannt.
Er propagiert, dass sich die Menschen freiwillig zu Vereinigungen und Genossenschaften zusammenschließen und diese wiederum freiwillig miteinander kooperieren sollen, wobei die Leitung der einzelnen Gruppen absolut volksdemokratisch zu sein hat. Eine alles bestimmende bürokratische Regierung – sei sie kapitalistisch, sozialistisch oder kommunistisch – entfällt, denn jede Form der Regierung, wodurch auch immer sie sich legitimiert sieht, führt den Anarchisten zufolge automatisch zu einer Herrschaft (Diktatur) weniger über alle. Der Mensch soll frei und selbstbestimmt leben und arbeiten, ohne in die Knechtschaft anderer zu geraten. Gewalt wird nach Kropotkins Verständnis von Anarchie abgelehnt – wohingegen der als Urtyp eines Anarchisten berühmte russische Denker Michail Aleksandrovič Bakunin (*1814, †1876) als militanter Vertreter etwas anderer Meinung war.
Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf Gesellschaftsformen und -philosophien einzugehen, hier soll Kropotkin als Mensch und Schriftsteller im Vordergrund stehen. In Bezug auf den Schriftsteller muss allerdings gleich eine kleine Einschränkung gemacht werden: Kropotkin war – wenn auch die Beschreibungen seiner Reisen, seiner „Abenteuer“ und Expeditionen durchaus spannend und mit großem Gespür für die Natur und die Menschen geschrieben sind – kein Belletristiker und er wollte es auch nicht sein, er hat keine Erzählungen oder gar Romane verfasst. Fiktives war ihm fremd; er war einerseits Naturwissenschaftler und wollte nichts als Fakten schildern und hat andererseits als Gesellschaftsphilosoph die Theorie des Anarchismus begründet.
Für an russischer Geschichte und Literatur interessierte Leser sind seine beiden fast unpolitischen Werke von großer Bedeutung.
Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur
Im Jahr 1901 trat das Bostoner Lowell Institute an den schon seit 1876 im Exil lebenden Kropotkin mit der Bitte heran, er möge einen Gesamtüberblick über die russische Literatur schreiben. In den USA und in Westeuropa kannte man zwar einzelne Schriftsteller in manchmal recht mangelhaften Übersetzungen – Turgenjew war beispielsweise schon sehr zeitig, praktisch zeitgleich mit dem Erscheinen des russischen Originals, sehr gut übersetzt worden, Tolstois Krieg und Frieden war gerade in deutscher Sprache erschienen, Dostojewskij kannte man zumindest in Auszügen – aber insgesamt war wenig von den russischen Schriftstellern und der russischen Literaturgeschichte bekannt.
Kropotkin hatte sich zu diesem Zeitpunkt in England, wo er seit 1886 lebte, schon nicht nur als Natur- und Sozialwissenschaftler, sondern auch als Historiker einen Namen gemacht. Für die berühmte Encyclopedia Britannica (Auflagen 10 und 11, erschienen 1902 und 1911) hatte er bis dahin schon 60 Artikel über das europäische und asiatische Russland geschrieben, und seit 1886 arbeitete er an seinem großen Werk über die Französische Revolution, das 1909 unter dem deutschen Titel Die Französische Revolution 1789 – 1793 herauskam, übersetzt von dem nicht minder berühmten deutschen Anarchisten, Pazifisten und Schriftsteller Gustav Landauer (*1870, † 1919; Mitglied der Münchner Räterepublik, von bayrischen Freikorpssoldaten in der Haft ermordet). Darin schildert Kropotkin die Französische Revolution aus der Sicht der Arbeiter, des einfachen Volkes, wohingegen die Historiker bis dato die Revolution stets aus der Sicht der herrschenden Klasse geschildert hatten – welch Wunder, gehörten sie doch selbst zu dieser –, was im Übrigen auch heute noch häufig die Regel ist (es gibt eben nicht die eine objektive Sichtweise – jede Sichtweise ist subjektiv).
Kropotkin war also auch als Historiker eine anerkannte Persönlichkeit. Aber nicht nur das: Schon in seiner Kindheit wurde großer Wert auf eine literarische Erziehung gelegt und außerdem war er quasi Zeitzeuge des großen Jahrhunderts der russischen Literatur; viele Schriftsteller kannte er persönlich oder lebte zumindest in ihrem engen zeitlichen Umfeld. Und er kannte Russland und seine politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe.
Durch das Zusammentreffen all dieser Umstände wurde seine Literaturgeschichte Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur zu einem damals wie heute großartigen Werk, auf das es sich immer lohnt zurückzugreifen.
Nun zu Pëtr Alekseevič Kropotkins Memoiren eines Revolutionärs (im Original Memoirs of a revolutionist, 1899; 1902 von Max Pannwitz ins Deutsche übersetzt, in der russischen Werksausgabe von 1907 Zapiski revoljučionera, zu deutsch: Revolutionäre Aufzeichnungen).
Der deutsch schreibende dänische Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller Georg Brandes (*1842, †1927) schreibt in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe (also noch zu Kropotkins Lebzeiten) – und besser kann man Pëtr Kropotkin wahrscheinlich nicht charakterisieren:
Kropotkin nennt sich selbst einen Revolutionär. Selten ist unstreitig ein Revolutionär so human gewesen und – seines Widerwillens gegen das Bürgertum ungeachtet – so mild. Er war nie ein Rächer, oft ein Märtyrer; er hat nie anderen, stets nur sich selbst Opfer auferlegt. Sein ganzes Leben hindurch hat er Opfer gebracht, doch solcherweise, dass man meinen sollte, sie wären ihm gar nicht schwergefallen, so wenig Aufhebens macht er davon. Er ist bei all seiner Strenge so wenig rachsüchtig, dass er jemand, den er am schärfsten verurteilt, einen Gefängnisarzt, dessen Namen er verschweigt, einzig mit den Worten brandmarkt: ›Je weniger man von ihm sagt, desto besser.‹ […]
Er ist ein Revolutionär ohne Pathos und ohne Embleme, der alles theatralische Zubehör der Revolution verlacht. Er braucht den Vergleich mit keinem Freiheitsmanne dieses Jahrhunderts, welchen Landes auch immer, zu scheuen. Keiner besaß höhere Geistesgaben, keiner tat es ihm an Uneigennützigkeit zuvor.
[aus Peter Urbans Nachwort zu Pëtr Kropotkin, Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur, Diogenes Verlag 2003]
Die Memoiren Kropotkins sind in mehrfacher Hinsicht interessant und wichtig: Einmal natürlich, weil wir seinen Lebensweg (zumindest bis 1890) kennen lernen; darüber hinaus aber zeichnet er ein Bild des alten Moskauer Hochadels – also der Kreise, die schon lange (seit dem Herrschaftsbeginn der Romanows), schon vor dem Aufkommen des Petersburger Dienstadels unter Peter dem Großen, „dazugehörten“ (und zu dem auch Kropotkin gehörte) – ein Bild des Lebens bei Hofe mit seinen Intrigen und dem vorherrschenden Neid.
Auch über die Ausbildung junger Adeliger ist vieles zu erfahren; und ganz wesentlich sind die Aufzeichnungen zu politischen Entwicklungen, Einflussnahmen und Entscheidungsvorgängen. Zu guter Letzt sind Kropotkins Memoiren noch eine kleine Entwicklungsgeschichte des Sozialismus in Westeuropa. Dass er angesichts verschiedener Situationen auch politische Gedanken und Einstellungen äußert, ist zwangsläufig, wenngleich nicht unbedingt für jeden Leser interessant. Man sollte deswegen aber nicht vor dem Werk zurückscheuen, denn das Wichtigste ist: Es ist interessant, in belletristischer Manier geschrieben; es ist keine trockene Aneinanderreihung von Daten und Fakten, sondern ähnelt streckenweise einem autobiografischen Roman.
Eine ausführliche Biografie Kropotkins gibt es zumindest in deutscher Sprache meines Wissens nicht, ja selbst im Russischen muss man sich Daten und Fakten mühsam zusammensuchen – nach 1920 wurde er dort aus der Literaturgeschichte getilgt und seine Werke wurden (wie die Werke der meisten anarchistischen Schriftsteller) eingesammelt und vernichtet.
Dabei wären seine Gedanken gerade heute in Ost und West interessant, in einer Zeit, wo über Ethik in der Politik und in der Gesellschaft heiß diskutiert wird, in einer Zeit der Neufindung nach der Selbstvernichtung des real existierenden Sozialismus und des Kommunismus – die er vorausgesagt hat –, in einer Zeit, in der sich der Kapitalismus durch ungezügelte Gewinnmaximierung ohne jegliche soziale Komponente selbst diskreditiert hat und weiter diskreditiert, einer Zeit, in der neue Wege für die Entwicklung in der „Dritten Welt“ gesucht und ausprobiert werden, in einer Zeit, in der es für die ehemals kommunistischen Staaten gälte, mit der Erfahrung aus der Vergangenheit und im Angesicht einer sich selbst diskreditiert habenden Gesellschaftsform ehrliche neue Wege zu suchen, anstatt den angeblich siegreichen Gegenentwurf einfach zu übernehmen.
Nicht heißt es, die Gedanken Kropotkins aus einer vergangenen Zeit eins zu eins zu übernehmen, aber sie wären es wert, neu durchdacht zu werden.
Um ein wenig mehr über die außerordentlich interessante Persönlichkeit Pëtr Kropotkins zu erfahren, hier einige Stationen seines Lebenswegs:
Am 27. November jul. / 9. Dezember greg. 1842 kam Pëtr Alekseevič Kropotkin im Alten Marschallviertel von Moskau zur Welt und verbrachte dort und auf dem Landsitz der Familie die ersten 15 Jahre seines Lebens. Seine Familie ist von ganz altem Hochadel und lässt sich bis in die Zeiten des warägischen Fürsten Rurik (*um 830, †um 879), den die slawischen Stämme gerufen hatten, um über sie zu herrschen, zurückverfolgen. In seinen Memoiren schreibt Kropotkin:
Unser Vater war auf die Herkunft seiner Familie sehr stolz und wies mit großem Selbstgefühl auf eine Pergamentrolle, die in seinem Studierzimmer an der Wand hing. Es prangte darauf unser Wappen – das Wappen des Fürstentums Smolensk mit dem Hermelinmantel darüber und der Monomachenkrone – und die vom heraldischen Amte beglaubigte Erklärung, dass unsere Familie von einem Enkel Rostislav Mstislavičs des Kühnen (eines alten, auf den Blättern der russischen Geschichte viel genannten Großfürsten von Kiew) abstammte, und dass unsere Vorfahren Großfürsten von Smolensk gewesen wären.
»Dreihundert Rubel hat mich dieses Pergament gekostet«, pflegte unser Vater dabei zu sagen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen war er mit der russischen Geschichte wenig vertraut, weshalb er den Wert der Rolle mehr nach ihrem Preise als nach ihrer historischen Bedeutung bemaß.
Als Kropotkin dreieinhalb Jahre alt war starb seine Mutter:
So blieben wir, Aleksandr und ich, in dem kleinen Hause und in den Händen Frau Burmans und Uljanas. Die gute alte Deutsche, die heimatlos und völlig allein in der weiten Welt dastand, suchte uns nach ihrer Weise die Mutter zu ersetzen. Sie zog uns auf, so gut sie konnte, kaufte uns von Zeit zu Zeit eine Kleinigkeit als Spielzeug und stopfte uns mit Gewürzküchlein voll, so oft ein anderer alter Deutscher, der mit diesen Leckerbissen handelte und der wahrscheinlich ebenso heimatlos und verlassen wie Frau Burman selbst war, in unser Haus kam. Unsern Vater sahen wir selten, und im übrigen gingen die beiden nächsten Jahre dahin, ohne einen dauernden Eindruck in meinem Gedächtnis zu hinterlassen.
Zwei Jahre später heiratete der Vater auf Befehl seines Vorgesetzten General Timofeev, Chef des sechsten Armeekorps und Günstlings von Nikolaus I., die Tochter eines Admirals der russischen Flotte im Schwarzen Meer. Auch sie kümmerte sich wenig um die Kinder, die von einem französischen Lehrer und einem russischen Studenten erzogen wurden.
Bedeutsam wurde für den kleinen Pëtr, als er acht Jahre alt war, ein Kostümfest des Adels anlässlich des 25. Jahrestages der Thronbesteigung von Nikolaus I., der aus diesem Anlass nach Moskau kam. Da der kleine Pëtr liebreizend anzuschauen war mit seinen Locken und einem persischen Kostüm, wurde er zum Kaiser gerufen und verbrachte den Rest des Festes teils schlafend auf dem Schoß der Frau des Thronerben und Nikolaus I. bestimmte ihn schon als Knabe für den späteren Eintritt ins Pagenkorps in Petersburg – eine Gunst, die er dem Moskauer Adel nur sehr selten zuteil werden ließ. Damit war Pëtr Aleksandrovičs Weg erst einmal vorgezeichnet.
1855, mitten während des Krimkrieges, starb Nikolaus I, und da
[ …] geschah es in Petersburg, dass Leute der gebildeten Klassen, die einander die Nachricht mitteilten, auf offener Straße einander in die Arme fielen. Jeder fühlte, dass der Krieg und die schrecklichen Zustände, die unter dem ›eisernen Despoten‹ geherrscht hatten, bald zu Ende seien. Man munkelte von Gift, besonders da der Körper des Zaren auffallend schnell der Auflösung verfiel, aber die Kenntnis der wahren Ursache sickerte nach und nach durch: Nikolaus hatte eine übermäßige Dosis eines stärkenden Arzneimittels genommen.
In diesen ersten fünf Kapiteln seiner Memoiren (»Die Kindheit«) malt Kropotkin ein beeindruckendes Bild des alten Moskau, des Alten Marschallviertels, des Lebens auf dem Landgut, der gesellschaftlichen Gepflogenheiten und auch der sozialen Situation zu Zeiten der Leibeigenschaft – natürlich aus einer kindlichen Perspektive, nichtsdestotrotz aber die Ungerechtigkeiten erkennend. Es war ein unbeschwertes, sorgenfreies, kindliches Leben.
In den nächsten sieben Kapiteln (»Das Pagenkorps«) schildert er die fünf Jahre in St. Petersburg (von 1857 bis 1862), die Zeit seiner militärischen und naturwissenschaftlichen Ausbildung.
Es war die Zeit des Umbruchs, als der liberale Alexander II. auf dem Thron folgte; die Aufhebung der Leibeigenschaft, die „Befreiung“, fand endlich statt. Da die Kadetten des Pagenkorps neben ihrer Ausbildung zum Offizier regelmäßige Dienste bei Hofe, in allernächster Nähe zur oder gar bei der kaiserlichen Familie zu verrichten hatten, schaute Kropotkin zwangsläufig hinter die Kulissen. Als Bester der obersten Klasse des Pagenkorps war er sogar ein Jahr lang der persönliche Kammerpage des Kaisers.
In der ersten Zeit meines kaiserlichen Dienstes als Kammerpage war ich von hoher Bewunderung Alexanders, des Sklavenbefreiers, erfüllt. Die Einbildungskraft führt uns in jenem Lebensalter oft über die Wirklichkeit hinaus, und ich würde damals den Kaiser mit meinem Leibe gedeckt haben, hätte man in meiner Gegenwart ein Attentat auf den Zaren unternommen.
Bald aber sah er die Rivalitäten der Interessenvertreter und auch, wie diese den Kaiser auf skrupellose Weise beeinflussten, und so begann der Glorienschein, den er Alexander II. anfänglich aufgesetzt hatte, nach und nach zu verblassen.
Am Ende seiner Pagenzeit war Kropotkin klar, dass er nicht als Offizier in ein Garderegiment bei Hofe eintreten wolle.
[….] Es war mein Traum, die Universität zu besuchen, mich dem Studium zu weihen, ein Studentenleben zu führen. Das bedeutete natürlich einen völligen Bruch mit meinem Vater, dessen Ehrgeiz ganz andere Ziele hatte, und ich hätte dann meinen Lebensunterhalt nur durch Stundengeben erwerben können. Tausende von russischen Studenten leben so, und eine solche Existenz hatte für mich ganz und gar nichts Schreckliches. Aber wie sollte ich über die erste schwierigste Zeit hinwegkommen? [….]
So wendeten sich meine Gedanken mehr und mehr Sibirien zu. Die Amurgegend war kurz vorher von Russland in Besitz genommen worden. Ich hatte alles über jenen Mississippi des Ostens gelesen, über die Gebirge, die er durchbricht, die subtropische Flora seines Nebenflusses, des Usuri, und meine Gedanken schweiften weiter – zu den tropischen Gegenden, die Humboldt geschildert hatte, und zu Ritters großartigen Theorien, deren Lektüre mich entzückte. Außerdem, sagte ich mir, bietet Sibirien ein ungeheures Arbeitsfeld zur praktischen Durchführung von großen bereits beschlossenen oder noch zu erwartenden Reformen: Nur wenige sind dort an der Arbeit, und ich werde einen Wirkungskreis nach meinem Geschmacke finden. [….] So hatte ich nur noch das Regiment in der Amurgegend auszuwählen. Der Usuri zog mich am meisten an, aber ach! am Usuri stand nur ein Regiment Kosaken-Infanterie. Ein Kosak ohne Pferd – das war für den Knaben, der ich immer noch war, unerträglich, und ich entschloss mich für die berittenen Amur-Kosaken.
Dies schrieb ich zur größten Bestürzung aller meiner Kameraden auf das Verzeichnis. »Es ist soweit«, sagten sie, während mein Freund Daurov das Offiziersbuch zur Hand nahm und daraus zum Entsetzen aller Anwesenden vorlas: »Uniform, schwarz mit einfachem rotem Kragen ohne Borte; Pelzkappe aus Hundefell oder anderm Pelz; Beinkleid grau.«
»Betrachte nur diese Uniform!« rief er aus. »Bitt‘ dich, die Kappe! Nun, du kannst eine aus Wolfs- oder Bärenpelz tragen; aber denk nur an das Beinkleid! Grau, wie beim Trainsoldaten!« Die Bestürzung stieg nach dieser Schilderung der Uniform auf den Gipfel.
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