Online oder offline? Herausforderungen für Bildung und Arbeitsmarkt in Russland nach der Pandemie

Online oder offline? Herausforderungen für Bildung und Arbeitsmarkt in Russland nach der Pandemie

Anna Marx (23) ist Pädagogin und Bildungsaktivistin. Sie engagiert sich für die Entwicklung des Online-Unterrichts in Russland. Ziel ihres Instituts für progressive Bildung ist es, Bedingungen für einen gleichberechtigten Zugang zu Wissen, qualitativ hochwertiger Bildung und Wissenschaft zu schaffen.

Anna, Sie sind aktiv an der Entwicklung des nationalen Sektors der Online-Bildung beteiligt. Sie haben die Online-Schule „Marks Academy“ gegründet, in der Sie den Schülern helfen, sich auf Abitur vorzubereiten. Während der Selbstisolation waren alle russischen Schulen gezwungen, sofort auf Online-Bildung umzusteigen. Welche Probleme hatten damit Lehrer und Schüler?

Anna Marks: Der Bildungssektor in Russland ist eher konservativ und verändert sich langsam. Der schnelle Wechsel zur Online-Bildung wegen des Coronavirus hat sich als eine echte Herausforderung für Lehrer und Schüler gleichermaßen erwiesen. Erstens haben Schüler einfach nicht immer die Möglichkeit, online zu lernen. Wenn die Eltern von zu Hause arbeiten und die Familie nur einen Computer hat, wie kann man ihn dann „teilen“? Darüber hinaus haben wir kein universelles System des Online-Lernens, alle Schulen haben den Prozess selbst organisieren müssen. Sowohl Webseiten als auch Plattformen funktionierten nicht, weil sie überlastet waren. Die Lehrer hatten viele Fragen: Wie kann man den Fernunterricht durchführen, um die Aufmerksamkeit der Schüler zu erhalten und sie in den Prozess einzubeziehen? In der Tat sind die Möglichkeiten zum Bereitstellen und Speichern von Informationen unterschiedlich, je nachdem, ob die Schulung online ist oder nicht. Die meisten Lehrer halten nur Frontalunterricht, ohne andere Tools anzuwenden, wie beispielsweise ein interaktives Whiteboard und so weiter. Das Bildungsministerium hat bisher auch keine Empfehlungen herausgegeben, welche Plattform verwendet werden soll, anhand welcher Kriterien die Hausaufgaben überprüft werden sollen.

Sie setzen sich für eine breitere Akzeptanz der Online-Schulbildung ein.

Anna Marks: Die eigentliche Funktion der Bildung besteht darin, Personal auszubilden und vorzubereiten und Wissen zu vermitteln. Dies kann sowohl offline als auch online erfolgen. Aber ich befürworte auf keinen Fall, dass Online-Bildung die traditionelle ersetzt. Weil Sozialisation nur stattfinden kann, wenn Schüler zusammen lernen, kommunizieren, gemeinsam Probleme und Konflikte lösen. Von der Grundschule ganz abgesehen, wo Kinder Feinmotorik entwickeln müssen. Aber in der Oberstufe und Hochschulbildung sollte man mehr Online anwenden. Ich bin für eine kompetente Kombination beider Richtungen. Der Vorteil der Online-Methode ist ihre vollständige Transparenz. Wenn zum Beispiel eine gemeinsame Datenbank für Schulnoten bestünde, könnte man nachverfolgen, wie sie generell vergeben werden.

Viele Experten glauben, dass in Zukunft zwei Bildungsstandards entstehen werden: für die „Armen“ online und für die Elite „offline“. Denn bei all den technischen Freuden ist der Unterschied zwischen Online-Kursen und traditioneller Bildung offensichtlich. Wie bewerten Sie diese Trends?

Anna Marks: Live-Kommunikation wird schon jetzt teurer. Aber ich würde die Online-Methode nicht unterschätzen. Heute kann jeder, der sich weiterentwickeln möchte, sowohl Schüler als auch Studenten, Online-Kurse belegen und Vorlesungen an den besten Universitäten der Welt besuchen. Und zwar oft kostenlos. Diese technische Gelegenheit bietet also die Möglichkeit, das beste Wissen zu erlangen. Ob es jedoch möglich ist, einen Beruf online zu bekommen, hängt von den Besonderheiten des Berufs selbst ab. Zum Beispiel können Marketingqualifikationen durch Online-Schulungen erworben werden, nicht jedoch der Arztberuf. Aber im Allgemeinen wird sich das Bildungssystem selbst ändern müssen und stärker auf die Bedürfnisse der Gesellschaft reagieren. Die Dauer des Studiums selbst sollte reduziert werden, aber nicht auf Kosten der Qualität, sondern weil die Lehrmethoden sich ändern. Darüber hinaus ist es möglich, dass Absolventen sozusagen direkt am Arbeitsplatz Qualifikationen „erwerben“. Schließlich ändern sich Technologien sehr schnell und es ist einfach unmöglich, sie alle an einer Universität zu unterrichten.

Wie werden sich die Folgen der Epidemie auf den Arbeitsmarkt in Russland auswirken?

Anna Marks: Wir haben eine Studie über den Arbeitsmarkt durchgeführt und dafür HR-Spezialisten angezogen. Wir haben die Stellenangebote der Arbeitgeber analysiert, Unternehmer befragt und untersucht, nach welcher Art von Arbeit die Menschen suchen. Den Ergebnissen der Studie zufolge zeigten sich Trends für die Berufe, die am stärksten nachgefragt werden und für die, die „leise“ sterben werden. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass viele Restaurants, Cafés und Reisebüros nach der Krise einfach nicht mehr öffnen werden und ihre Mitarbeiter sich neu ausbilden müssen, um wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Jetzt suchen alle händeringend einen guten Krisenberater. Wer sich einen solchen Berater nicht leisten kann, sucht nach geeigneten Kursen und Programmen zur Krisenbekämpfung. Auch Spezialisten für die Digitalisierung von Prozessen werden dringend benötigt, da viele Dinge online gehen.

Die heutigen Abiturienten müssen sich also schnell neu orientieren und die Fachgebiete studieren, die in Zukunft benötigt werden?

Anna Marks: Man muss das studieren, was einem gefällt. Schnell die Richtung zu ändern, nur weil es eine Pandemie gab – das scheint mir für Studenten die falsche Strategie zu sein. Denn in der Bildung schätzt man das Denken selbst, die Fähigkeit zur Analyse. Und diese Qualitäten werden immer und überall gefragt sein, ob in der Medizin oder in der Rechtswissenschaft.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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