Olga Forsch. Russisches Narrenschiff [Video]

[Rezension von Gerhard Mersmann] Olga Forsch. Russisches Narrenschiff

Maxim Gorki war es, der sich dafür stark machte, dass die zu Zeiten des Umbruchs und der Revolution aufblühenden Kräfte der Literatur ein Zuhause fanden. Nach der Revolution wurde in Sankt Petersburg ein Haus requiriert, in das sie einzogen. Obwohl sie nicht besser gestellt waren wie die andern Bürgerinnen und Bürger und ebenso auf Essensmarken und rationierten Brennstoff zählen mussten, so hatten sie doch eine Bleibe und einen renommierten Schutz. Aufgrund des Papiermangels war an Publikation nicht zu denken. So wurde aus einer Wohngemeinschaft kreativer, teilweise chaotischer und auf jeden Fall innovativer Kräfte ein Konsortium für das, was getrost als russische Avantgarde bezeichnet werden kann.

Die Autorin des Romans, Olga Forsch, kam selbst aus der Malerei und wandte sich während der Revolution der Literatur zu. Sie kannte das schon bald berüchtigte Haus aus eigener Erfahrung. Und sie gab dem Roman, der als ein Referenzstück der Avantgarde gelten kann, den Namen des Hauses, den es von der Bevölkerung sehr schnell bekam: Russisches Narrenschiff.

Der Roman selbst ist als ein methodologisches Dokument dessen zu betrachten, was sich auf dem Narrenschiff abspielte. Es geht um unterschiedliche Erzählweisen, um klassische Epik, um soziale Reportage, um Montage, um Traumszenen, um Bühnen-Slaps und um Bekenntnisse. Die geographischen Orte, von denen die Autorin das Haus der Literatur beleuchtet, wechseln, so dass ein Multiperspektivismus entsteht, der notwendig ist, um die Idee der Avantgarde aufzusaugen. Leichte Kost ist das nicht. Und hinzu kommt, dass sich hinter den Figuren tatsächliche Größen der damaligen, zeitgenössischen Literatur verstecken, die, zumindest für das deutsche Lesepublikum, teilweise nur über das exzellente Register erschlossen werden können. Anna Achmatowa, Andrej Bely, Alexander Blok, Alexander Grin, Ilja Ionow, Lew Lunz, Wadimir Majakowski, Nadeshda Pawlowitsch, Boris Pilnjak, Jelisaweta Polonskaja, Jewgeni Samjatin, Viktor Schlklowski, um nur einige zu nennen.

Neben den unterschiedlichen Genres und Sujets, mit denen jongliert wird wie in einem großartigen Varieté, wird mit jeder Zeile deutlich, in welcher historischen Situation sich das Ganze abspielt. Und es kommen unweigerlich die Worte eines Karl Marx ins Gedächtnis, der in der Deutschen Ideologie die Situation beschrieb, wenn es zwischen verschiedenen Klassen um die Macht ging. Er nannte diesen Zustand die praktische Kollision. Dann, so räsonierte er, ginge es in den Kreisen, die sozial schwer und als Klasse gar nicht beschrieben werden können, nämlich den Künstlern, den Wissenschaftlern, den Philosophen, darum, auf welche Seite sie sich schlügen. Um es populär auszudrücken: Wenn es um die Macht geht, dann spielen Fragen der Ästhetik keine Rolle.

Olga Forsch hatte das früh begriffen. Nicht umsonst wählte sie für den Roman Abschnitte, die sie als Wellen zählte. Das Werk endet mit der neunten Welle, bei den Seefahrern bekannt als die gefährlichste bei schwerem Wetter. Die Literaten, die in diesem Haus wohnten, belegen mit ihren Biographien, in welchen Zeiten sie dieses Haus als Labor für ihre Visionen nutzen durfte. Manche verzweifelten und brachten sich um, andere landeten im Gefängnis oder gingen ins Exil und einige überlebten im neuen Russland.

Olga Forsch selbst blieb und wurde ein angesehenes Mitglied des Schriftstellerverbandes. Ihre Werke wurden veröffentlicht. Mit dem Russischen Narrenschiff tat man sich schwer. Es erschien 1930 in kleiner Auflage und dann erst wieder 1964, während der Tauwetter-Periode. Oft hat Geschichte ein kurioses Regiebuch: Ohne Avantgarde kommt es nicht zum Wandel. Und während des Wandels hat es gerade die Avantgarde besonders schwer.

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