Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 18. Iwan Iwanowitsch

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 18. Iwan Iwanowitsch

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Erscheinungsjahr: 1855

Themenbereiche Politik, Gesellschaft, Wirtschaft  Russland Enthaltene Themen: Russland, Russen, Moskau, Nationalsitten, Gastfreundschaft, Rangklassen

Wollten wir die Menge von Klöstern und Palästen mit allen ihren Luxusgegenständen, welche die vornehmen Russen in der Umgebung Moskaus besitzen, die vielen Vergnügungsörter, an denen sich Sonn- und Feiertags das Volk belustigt, u. dgl. m. schildern, so würde dieses der Raum unseres Werkes gar nicht fassen können. Aber einen Besuch bei einem alten biedern Russen, zu dem mich mein Freund führte, kann ich nicht unterlassen, hier zu erzählen. Es war ein origineller, sehr treuherziger und dabei sehr religiöser Mann, der seine Nationalsitte treu bewahrt hatte. Er hieß Iwan Iwannowitsch und mit dem Familiennamen Nowikow. Sein Haus war für jeden gebildeten Mann stets offen; aber ganz besonders gut nahm er jeden auf, der wie er, Iwan Iwannowitsch hieß. Mein Freund war sehr vertraut mit ihm, und der Alte war immer hoch erfreut, wenn er ihn besuchte. Als wir beide zu ihm kamen, und mein Freund mich ihm vorstellte und sich dabei den Spaß machte, indem er sagte, ich hieße Iwan Iwannowitsch, war der Alte voll der äußersten Freude, zumal er ein wenig deutsch sprach und mit mir sprechen konnte. Er ließ, mir zu Ehren, ein exzellentes Mittagessen bereiten, wozu er mehrere seiner Freunde einlud; der Champagner floss dabei wie ein Strom. Als wir darauf nach Hause gingen, musste ich ihm das Versprechen geben, ihn während meines Aufenthalts in Moskau noch recht oft zu besuchen. Das tat ich denn auch noch einige Male und er freute sich dabei ganz außerordentlich. Als ich nach mehreren Jahren nach Moskau zurückkehrte, fragte ich meinen Freund, was der gute Alte mache. Er liebt mich noch immer wie früher, sagte er, und hat wohl hundertmal nach Dir gefragt. Aber mit dem „Iwan Iwanowitsch“ ist es vorbei! fügte mein Freund lächelnd hinzu; doch das geht Dich nichts an, sondern nur Leuten, die seine Gastfreundschaft missbrauchten. Würdest Du ihn diesmal nicht besuchen, es täte ihm sehr leid, weil Du einen überaus guten Eindruck auf ihn gemacht hat, und er Dich nicht als Iwan Iwanowitsch, sondern als einen gebildeten Mann und meinen Freund empfangen wird. – Aber so erkläre Dich doch deutlich über das drollige Ding! sagte ich neugierig. Ei nun, sagte mein Freund, es kamen so viele zu ihm, die sich Iwan Iwanowitsch nannten, dass der Alte manchmal bedenklich den Kopf schüttelte, und als einmal. Einer kam, der auch so hieß, dessen ganzes Tun und Wesen ihm aber gar nicht gefiel, sagte er, derb, wie er manchmal ist: „Jeder Hund *) heißt Iwan Iwanowitsch!“ Und seitdem will er von allen ihm Unbekannten, die sich so nennen, nichts mehr wissen. –

*) Die alten Russen rechneten auch den Hund zu den unreinen Tieren, weshalb sie ihn auch nicht duldeten. Daher mag wohl das triviale Schimpfwort der Russen entstanden sein, nämlich Sukinsün (Hundesohn), insofern höchst abscheulich, als man damit Menschen schimpft. Dieser Schimpfname ist in Russland so üblich, dass Iwan Golowin, der freilich kein liebenswürdiges Bild von seinen Landsleuten aufstellt, sagt, mancher Erzbischof schimpfe seine Mönche „Sukinsün!“ Das haben wir nun zwar aus dem Munde eines solchen Geistlichen nie gehört, so viele wir deren auch kannten; dass aber Generale nicht selten ihre Offiziere, zumal wenn diese letztere russischbürgerlicher Herkunft sind, so schimpfen, haben wir mehr als einmal gehört. Im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts scheinen die Russen eine bessere Meinung von dem treuen Haustiere erhalten zu haben, denn der Zar Wassilij Wassilijewitsch hat die ersten Hetzjagden an denen er so viel Vergnügen fand, in Russland anbefohlen.

So etwas kann aber auch nur in Russland vorkommen, wo die Gastfreundschaft so groß ist, dass man sie erlebt haben muss, um sich einen Begriff davon zu machen, denn sie geht über alle Beschreibung. Das Witsch, das man dem Taufnamen des Vaters anhängt, indem man ihm noch ein o vorsetzt, war ehedem eine hohe Würde in Russland. Hat Jemand, wollen wir annehmen, den Taufnamen Stephan und sein Vater Karl, so nennt man ihn Stephan Karl-owitsch. Dem Taufnamen weiblichen Geschlechts hängt man statt des Witsch die Silbe owna an, z. B. Anna Michail-owna. Diese alte russische Sitte bietet uns das vorzüglichste Hilfsmittel zur Umgehung der Etiquette in der Umgangssprache, denn dieser Wohlstandsgebrauch ist im Lande des Titelwesens, in Russland, mehr zu Hause ist, als in irgend einem Lande Westeuropas. Steht man in Russland mit irgend Jemandem von Rang auf gutem Fuße, so überhebt uns dieses keineswegs der Formalitäten hinsichtlich des Titelwesens und man wäre, existierte das Witsch oder Owna nicht, genötigt, diese Personen mit Ew. Hochgeboren! Hochwohlgeboren! ja sogar mit: Ew. Wohlgeboren! anzureden, oder mit: Herr Staats-Rat, Herr Kollegien-Rat, Herr Titular-Rat, welche letztere Art zu reden sich im Deutschen zwar leicht, im Russischen aber nicht ohne Zwang tun lässt, und weil die erstgenannte im Russischen viel üblicher ist, als die letztere, denn Ghosspodin Statskij Sowätnik (Herr Staatsrat) klingt im Russischen sehr gezwungen. Und die andere Redensart; Wasche Wuissokródije (Ew. Hochgeboren) ist zwar die übliche, aber doch nur für das gemeine Volk und auch für die untersten Beamten, um ihre hohen Chefs anzureden; aber für einen Mann von Rang ist sie zu peinlich. Sobald aber Jemand den Generalmajors- oder Wirklichen Staatsrats-Rang erreicht hat, so muss Einer, der kleiner im Range steht, ihn mit: „Exzellenz!“ anreden. Das Witsch und Owna ist aber in der neuern Zeit so allgemein üblich geworden, dass selbst Bürgers- und Bauersleute es unter sich anzuwenden pflegen. Ein Diener unserer hohen Schule, ein verabschiedeter Unteroffizier, der auch auf Befehl des Direktors oder Inspektors Ruthen austeilte, fand sich sehr gekränkt, wenn die Schüler ihn bloß mit einem Taufnamen: Iwan! und nicht mit Iwan Stephanowitsch, anredeten. Gegen alle Schüler, die ihm diese Ehre nicht antaten, hegte er eine kleine Rache, die er ausübte, wenn einer von ihnen Ruthen erhielt, indem er dann desto tüchtiger d’rauf losschlug. Dass aber dieses Witsch in früheren Jahrhunderten eine hohe Würde war, sehen wir daraus, dass Johann der Schreckliche, zum Zeichen seiner besonderen Gnade, dem Kaufmanne Stroganow das Recht erteilte, dieses Witsch führen zu dürfen. Der furchtbare Zar witterte nämlich auch in seinem eigenen Sohne, dem Zaréwitsch Verrat und schlug ihn mit seinem eisernen Stabe auf den Kopf, dass der junge Mann zu Boden stürzte, in seinem Blute schwamm und am vierten Tage darauf starb. Dieser Todesstreich hatte für das Land jene traurigen Folgen, die wir oben bei dem falschen Demetrius gesehen haben. Denn jetzt wurde Fédor, des Zaren jüngerer Sohn, Thronfolger, der aber halb blödsinnig war und das Land unmöglich regieren konnte. Der Zar hatte zwar noch einen Sohn von seiner siebenten Frau, Namens Dimitrij, der aber noch sehr klein war. Als nun Johann starb, wurde Fédor zum Zaren gekrönt; doch Boris Godunow, sein Schwager und erster Minister regierte; der schaffte den jungen Dimitrij aus dem Wege, und wie man vermutet, auch den Zaren Fédor selbst, denn dieser starb plötzlich und Niemand wusste, woran er gestorben war. Damit endigte das Geschlecht Ruriks in direkter Linie, denn Godunów, der sich des Thrones jetzt bemächtigte, stammte von einem unbedeutenden tatarischen Fürsten ab, dessen bildschöne Tochter sich der Vater Johanns des Schrecklichen zur Gemahlin erwählt hatte. Als der grausame Zar den eisernen Stab gegen das Haupt seines Sohnes erhob, wollte Godunow, der zugegen war, den Streich abwehren und wurde dabei schwer verwundet. Dieser hatte sich seitdem nicht vor dem Zaren sehen lassen, weil er so bedeutend verletzt, darnieder lag. Aber eines Tages ging Johann selber zu ihm, und fand hier den Kaufmann Stroganow, der Kenntnisse in der Arzneikunde besaß und schon Manchen von schwerer Krankheit geheilt hatte; der verwundete Godunow war auch unter seiner Pflege. Stroganow hatte dem Kranken ein Haarseil*) gesetzt.

*) Beim Haarseil (auch Eiterband oder Setaceum genannt) handelt es sich um eine Therapiemethode der Bader-Chirurgie des 17. bis 19. Jahrhunderts. Dem Patienten wird mit einer Haarseilzange ein Stück Nackenhaut angehoben, durch dieses wird eine Haarseilnadel mit dem Haarseil, einer Schnur aus Rosshaar, Leinwand oder ähnlichem, durchgestoßen. Das Haarseil verbleibt nun einige Tage unter der Haut, bis sich Eiter bildet, diese Eiterung soll nun zur „Ableitung böser Säfte“ aus dem Rest des Körpers beitragen. Bis ins 19. Jh. wurde diese Therapieform noch bei Tieren angewendet, ohne jedoch einen positiven Einfluss auf Krankheitsherde anderswo im Körper zu haben. Bei dieser Behandlungsform besteht erheblich die Gefahr der bakteriellen Infektion, einer Blutvergiftung oder der Entstehung eines Fistelganges. Bei lokalen Erkrankungen bestimmter Organe wurde das Haarseil auch in der Haut über den vermuteten Krankheitsprozess eingenäht, so auf dem Brustkorb, Bauch oder Extremitäten. Das Haarseil wurde auch zur Behandlung psychischer Erkrankungen in den Irren- und Tollhäusern des 18. Jahrhunderts angewandt. (Quelle: Wikipedia)

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben–18-Iwan-Iwanowitsch

COMMENTS