Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 8. Der Ausweg

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 8. Der Ausweg

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Erscheinungsjahr: 1855

Themenbereiche Politik, Gesellschaft, Wirtschaft  Russland Enthaltene Themen: Russland, Russen, Religion, St. Petersburg

Auf dem Wege begegnete ich wieder einigen deutschen Kolonisten, und während ich Einem meine Lage mit wenig Worten schilderte, trat ein großer, hagerer Mann, mit einem recht gescheidten Gesichte herzu und sagte:

„Was zum Kuckuck kann Sie denn das kümmern, dass man Sie nicht nach Zarskoje Seló lässt! hier unten, linker Hand, das ist ja der alte Moskauer-Weg, der nach jener Ferne führt, wo Sie hin wollen, und den alle Fuhrleute fahren, alle Fuhrleute! denn auf ihm ist’s näher, als über Zarskoje. Nur die Post und Leute, welche die Merkwürdigkeiten dieser Stadt und die schönen Lustschlösser rund umher sehen wollen, fahren über Zarskoje Seló.“ –

„Diesen Weg, sagte ich, habe ich jedesmal im Vorbeigehen gesehen, da ich aber keinen Menschen und kein Fuhrwerk auf ihm sah, so dachte ich nicht anders, als dass auch er nach Zarskoje führe. „Nun da kommen Sie mir vor wie ein Mann, den ich kannte, der seine Brille suchte, die er auf der Nase hatte!“ sagte der gescheidte Kolonist und lachte laut auf. – Folglich bin ich nicht der Einzige, der Etwas suchte, das er in der Hand oder auf der Nase hat, sagte ich. Lachen Sie nur! ich bin hier ein Fremdling und so viele Kolonisten und andere Leute ich auch fragte, ob denn kein anderer Weg, als über Zarskoje sei, den ich von hieraus gehen könnte, so konnte mich doch Keiner auf diesen Weg aufmerksam machen.

Hatten denn diese Leute alle ein ledernes Gehäuse im Magen? sagte, der hagere Kolonist. Aber aus solchen Fällen mag das Sprichwort entstanden sein: Wenn sich Etwas machen soll, so macht es sich, und sollten auch die Steine auf der Straße mit dazu beitragen, fügte er hinzu.

Sie sind ein sehr kluger und erfahrener Mann, sagte ich. Diese Worte schienen ihm wohlzutun, und er fuhr in belehrendem Tone fort: „Dass Sie kein Fuhrwerk auf diesem Wege sahen, darf Sie gar nicht befremden, denn ich selber habe, seit es in St. Petersburg drunter und drüber geht, dergleichen nicht darauf gesehen, es scheint, als ob sich Keiner aus dem Hause wage, geschweige denn auf die Reise, so viel Angst verbreitet die Cholera. Fuhrwerke, die aus Moskau und andern Städten jener Gegend kommen, können auch nur in gewissen Zeiträumen hier vorbei passieren, denn in einer Kreisstadt, nicht gar weit von hier, muss Alles, was von daher kommt, Quarantäne halten. Es ist Ihnen ja doch nicht unbekannt, dass die Cholera in Moskau, Charkow, Kiew und andern Städten tüchtig gewirtschaftet hat, und dass sie auch noch in jenen Gegenden ihr Wesen treibt? Sie sind ja blut-jung und sehen aus, wie ein rechter Springinsfeld, der ausreißen kann wie Schafleder, wenn es not tut! . . . Nehmen Sie mir meine heitere Laune nicht übel; denn ich will mit dem Allen nichts weiter sagen, als: dass Sie ein hübsches Kerlchen sind, das auch zu marschieren versteht, wenn es gerade sein muss. Warten Sie daher nicht, bis Sie eine Fahrgelegenheit finden, sondern machen Sie sich schnell davon, ehe vielleicht noch dieser Weg mit Wache besetzt wird, also, dass auch die aus St. Petersburg Kommenden, Quarantäne halten müssen; noch ist dieser Weg nicht versperrt, aber wer kann’s wissen, ob es noch lange so bleibt.“

Ich reichte dem gescheidten Alten die Hand und dankte ihm für seinen Rat. „Keinen Augenblick will ich Sie länger aufhalten, denn jede Minute, die Sie den ganzen Tag hindurch vor sich haben, ist kostbar für Sie. Behüte Sie Gott!“ sagte er, und so schieden wir von einander. Jetzt zog ich, auf Gott und meine Füße vertrauend, mit gewaltigen Schritten in die weite blaue Ferne hinaus. Pass und Geldbörse, die der Reisende nie zu seinen Effekten legen soll, befanden sich glücklicher Weise bei mir. Ich mochte etwa zwei deutsche Meilen auf diesem Wege zurückgelegt haben, als mir das hochgelegene Zarskoje Seló zur Rechten sichtbar wurde. Zwei Bauern, die auf dem Felde waren, sprachen mit einander, und während ich diese Leute ansah, zeigte der Eine mit der Hand nach Zarskoje – ich gab meinem Auge dieselbe Richtung. Was sah ich? – Soldaten, die mit starken Schritten sich dem alten Moskauer Weg zu nahen schienen; ihre Waffen blitzten in der Morgensonne, wie das Element an Gewittertagen. Pfeilgeschwind floh ich auf meiner Bahn dahin, nichts anderes erwartend, als den Zuruf von Stimmen, dem Donner gleich, der den Wanderer auf offener Straße mit Schrecken erfüllt.

Als Zarskoje Seló und die mir Angst erregende Erscheinung gänzlich meinem Blicke verschwunden waren, gewahrte ich durch die mir nahe stehende Werstsäule, dass ich in einer Stunde mehr als eine deutsche Meile*) zurückgelegt hatte. Jetzt atmete ich wieder freier, die Luft schien mir leicht, wie nach einem Gewitter; und ich setzte auf obige Art meinen Weg fort, bis der glühende Strahl der Mittagssonne mich nötigte, in dem Schatten eines Baumes neue Kräfte zu sammeln.

*) 7 Wert gehen auf eine deutsche Meile. Auf einem Wege von zwei Stunden trifft man also sieben solcher Werstsäulen an.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben–8-Der-Ausweg

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