Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 4. St. Petersburg und seine Merkwürdigkeiten.

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 4. St. Petersburg und seine Merkwürdigkeiten.

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Erscheinungsjahr: 1855

Themen: Russland, Russen, russische Geschichte, St. Petersburg, Reisebericht, Stadtbeschreibung,

Schon im 13. Jahrhundert hatten die Schweden verschiedene Festungen und Verschanzungen in den Gegenden Ingermanlands, dessen Hauptstadt einst Narwa war und jetzt St. Petersburg ist. Die handelssüchtigen Republikaner von Groß-Nowgorod, deren Statthalter damals Alexander Newskij war, sahen mit Neid und Verdruss auf die festen Plätze der Schweden. Daher waren sie auch fast im steten Kampfe mit ihnen. Endlich bemächtigte sich Peter der Große im Anfange des 18. Jahrhunderts der ganzen Gegend und gründete das nunmehrige so berühmte St. Petersburg an der Newa, wo sonst nur einige Fischerhütten standen. Welch ein Unternehmen, hier im Moorraste eine solche Stadt zu erbauen! Hunderttausende von Menschen, die der Zar aus allen Gegenden seines Reiches hieher befohlen, kamen bei der Arbeit ums Leben. Es schien, als ob der Tod mit seiner Hippe da gestanden und viele Hunderte täglich niedergemäht hätte. Die durch das Aufwühlen des sumpfigen Bodens verpestete Luft, der Mangel an Lebensmitteln und aller notwendigen Pflege und die ungeheure Anstrengung der Arbeit selbst, rafften die Menschen in Menge hinweg. Zu all diesem Ungemach kam nun noch, dass die Schweden. Alles aufboten, den begonnenen Bau wieder zu zerstören.

Mit ähnlichen Widerwärtigkeiten hatten, ein halbes Jahrhundert später, die ersten deutschen Kolonisten zu kämpfen, welche Katharina II. nach Russland lockte und ihnen die öde Steppe an der Wolga im Saratow’schen Gouvernement zu ihrer Niederlassung anwies. Diese armen Leute hofften, laut ihres Kontraktes, Häuser, Ställe, Scheunen u. dgl. m. fertig zu finden; fanden aber bei ihrer Ankunft daselbst nicht einmal das Material zum Bauen vorhanden. Während sie sich nun an die schwere Arbeit machten, alle unumgänglich notwendigen Gebäulichkeiten ins Dasein zu bringen, wurden sie von den Kirgisen und andern wilden Steppenvölkern, die wie ganze Herden von Raubtieren umherstrichen, in Furcht und Schrecken gesetzt und an der Arbeit verhindert. Zum Glücke hatten viele der deutschen Bauern ihre Feuergewehre mitgebracht, vermittelst deren sie den wilden Menschen wenigstens soviel Respekt einflößten, dass sie sich nicht allzu nahe herbei wagten.

Die russischen Bauern, welche zu ähnlichen Niederlassungen gezwungen worden, waren nicht so glücklich; sie hatten keine solche Waffen, und daher fielen nicht wenige von ihnen, samt ihren Weibern und Kindern in die Hände dieser Barbaren, von denen sie fort in die Sklaverei geschleppt wurden. Wenn Peter der Große wirklich im Sinne hatte, die Haupt- und Residenzstadt seines Reiches hier an der Newa gründen zu wollen, so ist das unbegreiflich; denn die Gegend ringsumher ist nicht nur all zu stiefmütterlich von der Natur ausgestattet, sondern der finnische Meerbusen von Kronstadt herauf und der 292 Quadrat-Meilen große Ladogasee von oberhalb Schlüsselburg die Newa herab, bedrohen auch St. Petersburg alljährlich mit einer Überschwemmung, wovon die Stadt schon oft heimgesucht worden ist.

Dem Zaren schien der Ort wohl am günstigsten für eine Hafenstadt, die zugleich eine offene Pforte werden sollte und geworden ist, durch welche Russland nach ganz Europa eingeht. Beim Bauen dieser seiner Lieblingsstadt war er täglich eigenhändig beschäftigt. Einmal, so wird erzählt, erblickte er einen hohen dicken Stamm, der halb in die Erde gerammelt war und der oben ein Zeichen hatte, das mit der Axt eingehauen zu sein schien. Was soll das bedeuten? fragte er einen Arbeiter, der aus hiesiger Gegend gebürtig war. So hoch stand im Jahre 1680 das Wasser, antwortete der finnische Bauer. Der Zar erschrak, denn er stellte sich vor, wie gefährlich ein solcher Wasserstand seiner Stadt werden müsste, der die einstöckigen Gebäude, wie sie damals fast alle gebaut wurden, überfluten würde. Sto delajet! was ist zu machen, dachte er endlich, hunderte von Häusern sind schon aufgebaut, und die Stadt muss nun einmal hier stehen! Der Selbstherrscher aller Russen aber wusste sich augenblicklich zu helfen. „Frjosch, Sukinsün!“ (Du lügst, Hundesohn!) sagte er zu dem Bauern, „so hoch kann und darf das Wasser nicht steigen!“ Damit hieb er den Stamm mit eigener Faust nieder, als wolle er dadurch das Übel ein für alle Male beseitigen. Und das schien geholfen zu haben – wenigstens für so lange als der große Zar lebte; denn erst drei Jahre nach seinem Tode, 1728, wurde St. Petersburg von der ersten großen Überschwemmung heimgesucht. Das Meer trieb seine Fluten die Newa hinauf und überschwemmte die junge Stadt; viele Menschen kamen dabei ums Leben.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben–4-St-Petersburg-und-seine-Merkwuerdigkeiten

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