Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 11. Groß-Nowgorod und die Gründung der russischen MonarchieDie slavischen Gesandten vor Rurik, dem Gründer des Russischen Reiches

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 11. Groß-Nowgorod und die Gründung der russischen Monarchie

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Erscheinungsjahr: 1855 Themenbereiche Mecklenburg-Vorpommern  Politik, Gesellschaft, Wirtschaft  Russland  Hansezeit

Enthaltene Themen: Russland, Russen, Nowgorod, Landesgeschichte

Es war an einem freundlichen Nachmittage gegen 5 Uhr, als ich in Begleitung des Braunschweigers in Nowgorod (nicht zu verwechseln mit Nischnei-Nowgorod) ankam. Da es so schönes Wetter und noch so früh war, konnte mich mein Gefährte nicht bewegen, hier über Nacht zu bleiben. „Bedenken Sie doch“, sagte er, „es sind noch 25 Werst bis zur nächsten Poststation, einer kleinen Kreisstadt. Auch finden wir bis dahin kein einziges Dorf, ja, nicht einmal ein Haus, wo wir einkehren könnten. Ich bin so müde, dass ich’s Ihnen nicht sagen kann! Sind Sie denn gar nicht müde?“

Ich begreife heute noch nicht, wie es möglich war, dass ich gegen diesen armen Menschen, der mich mit so vieler Aufmerksamkeit behandelte, so grausam sein konnte. Genug, alle seine Vorstellungen und Bitten waren umsonst! nichts konnte mich bewegen hier über Nacht zu bleiben. „Nun, so gönnen Sie mir wenigstens 2 Stündchen Ruhe, darauf mag’s, wenn’s nun einmal sein soll, weiter gehen“, bat er mich. Zwei Stunden, sagte ich, will ich auf Sie warten und wenn Sie dann mitgehen wollen, wird es mir lieb sein. Jetzt legte er sich auf eine Bank, sein Felleisen diente ihm als Kopfkissen. Ich saß neben ihm. 25 Werst – über 3 1/2 deutsche Meilen! . . . es ist wahrlich zu viel für unsere ermüdete Knochen! ist eine Tagesreise für Manchen! . . . so brummte er vor sich hin. Ich bin 40 Jahre alt, fuhr er fort, habe unter den Braunschweiger Jägern gedient, habe einen Teil von Frankreich und ganz Deutschland durchreist und habe überall denjenigen gesucht, der sich mit mir im Marschieren hätte messen wollen . . . endlich finde ich ihn in Russland . . . Aber Sie sollen ihren Mann auch an mir finden, dessen können Sie versichert sein. Ich darf nicht unterlassen, fuhr er fort, Ihnen zu bemerken, dass uns auf diesem 25 Wert langen Wege von der rechten Seite eine feuchte Luft aus Sümpfen, und von der Linken nichts besseres von dem Kanal her anwehen wird, der sich von hier aus bis nach jener Kreisstadt und noch weiter, zieht. Die Nacht ist feucht und kühl . . . wir befinden uns dann zwischen keinen zwei Feuern. . . Ihr Frack ist kein Pelz. Die Cholera ist nicht weit und am liebsten in sumpfigen feuchten Gegenden“, solche Vorstellungen machte er mir.

Ruhen Sie 2 Stunden aus, sagte ich. Unterdessen gehe ich ein wenig, die Stadt in Augenschein zu nehmen. „Doch nicht in Ernst?“ fragte er. In allen Ernste! sagte ich. Wenn Sie Lust haben mitzugehen, so machen Sie sich bereit. Gehorsamer Diener! rief er aus und drehte sich ein paar mal auf seinem Lager herum. In zwei Stunden bin ich wieder hier, sagte ich und ging zur Türe hinaus. Ich richtete meine Schritte zuerst nach der Kirche zur heil. Sophie, die nach dem Muster der Sophienkirche in Konstantinopel erbaut wurde. Sie ist viereckig, hat eine große hohe vergoldete Kuppel, die von vier kleineren umgeben ist. In ihrem Innern ist sie mit einer Menge Heiligenbilder, von denen die meisten den Stempel eines hohen Altertums tragen, reichlich ausgeschmückt; 12 kolossale Säulen tragen das Gewölbe. Diese Kirche, an die sich so viele geschichtliche Erinnerungen knüpfen, wurde schon im elften Jahrhundert erbaut, sie ist wohl die älteste in ganz Russland. Hier war es, wo jener schlechte Mensch, Namens Peter, die falsche Beweisschrift, sein eigenes Machwerk, hinter einem Heiligenbilde versteckte, wodurch, nach dem Zeugnisse der Annalisten, 60.000 Menschen den schauderhafteten Tod fanden. Dieser Peter, wegen seiner schlechten Streiche einmal in Nowgorod bestraft, wollte sich an der ganzen Stadt rächen. Er verfasste einen Brief verräterischen Inhalts an den König von Polen und versah ihn mit den Unterschriften des Erzbischofs und einiger hohen Würdenträger von Nowgorod, welche so täuschend nachgemacht waren, dass man nicht anders glauben konnte, als jene Männer hätten sie eigenhändig unterzeichnet. Dieses falsche Dokument versteckte er hinter ein Heiligenbild in der Sophienkirche, eilte zum Zaren Iwan dem Schrecklichen nach Moskau und gab an, die Nowgoroder wollten das Vaterland an Polen verraten. Dieser eilte nun mit seiner Leibgarde, die aus lauter Henkersknechten bestand, im Dezember des Jahres 1569 aus Moskau hierher und hielt das schreckliche Blutgericht. Die Zeit erlaubte mir diesmal nicht, alle historisch merkwürdigen Orte und Gebäuden dieser Stadt in Augenschein zu nehmen. Ich stellte mich beim Nachhausegehen auf die Wolkowbrücke, wo der Strom, der die Stadt in zwei Hälften teilt, sehr reißend ist, und meine Phantasie malte sich unwillkürlich das schauderhafte Gemälde von dem Mordgerichte, das der schreckliche Zar hier hielt. Dieser fürchterliche Mensch kam mit seinem Corps Schergen, Opritschniks genannt, d. h. Auserwählte, um die Verräter, die er in fast allen seinen Untertanen witterte, zu züchtigen, und ließ, wie oben gesagt, 60.000 Menschen morden. An Schlitten ließ er die Unglücklichen binden und aus allen Orten der Stadt hierher schleifen, wo der Strom so reißend ist, dass er in der strengsten Kälte nicht zufriert, und ließ sie hinein schleudern. Wem es möglich war, durch Schwimmen einen Versuch zur Rettung zu machen, der wurde mit Äxten, Stangen und Fischerhaken im Wasser erschlagen. Der Freiheitssinn, der sich von den einstmaligen Republikanern dieser Stadt auf die Enkel vererbt hatte, war wohl mit Ursache, dass der wahnsinnige Fürst diese unerhörte Grausamkeit ausübte.

Alles, Alles, was ich in Nowgorod sah, erfüllte mich mit tiefer Wehmut. Die Stadt, wahrscheinlich schon im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung gegründet, ist von ihrer stolzen Höhe, auf der sie sechs Jahrhunderte hindurch gestanden, so tief herab gesunken, dass sie heutzutage kaum noch einen Schatten von ihrer früheren Herrlichkeit zeigt. Und die Urenkel der vielleicht allzu übermütigen Bürger, welche einst diese freie Stadt bewohnten! . . .

Wenn uns schon beim Anblick der Ruinen einst herrlicher Gebäude, die eine Geschichte haben, tiefe Wehmut ergreift; wenn beim Erblassen eines glanz- und ruhmerfüllten Lebens unser Gefühl schmerzlich berührt wird; um wie viel schmerzlicher muss unser Herz betroffen werden beim Anblick eines in Knechtschaft versunkenen Volkes, dessen Väter einst frei waren, wie der Aar, der hoch in den Wolken des Himmels sein Nest baut. Ja, frei waren einst die Slawen, sagt Karamsin, der berühmte russische Geschichtsschreiber, frei waren sie, als sie von Osten nach Westen zogen, um sich im Raume der Welt neue Wohnsitze zu suchen, frei waren sie, wie die Adler, die in den Wüsten der verlassenen Gebiete über ihren Häuptern kreisten.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben–11-Gross-Nowgorod-und-die-Gruendung-der-russischen-Monarchie

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