Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 10. Der Braunschweiger

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 10. Der Braunschweiger

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Erscheinungsjahr: 1855

Themenbereiche Reisen  Politik, Gesellschaft, Wirtschaft  Russland Enthaltene Themen: Russland, Russen, Reisebericht, Fastenzeit, Wirtshäuser, Poststationen, Deutsche, Kolonisten

Ich mochte in dieser Herberge eine Stunde geruhet haben, als ich im Begriff war, wieder aufzubrechen.

Da sprach eine tiefe Bassstimme zum Fenster herein: „Endlich! endlich! habe ich Sie eingeholt!“ – Wer sind Sie? fragte ich den kleinen, in schäbigen Kleidern vor mir stehenden Mann.

„Ich bin ein Braunschweiger, meines Faches ein Tuchmacher, mein Familienname ist Georg, und reise nach Moskau. Ein Kolonist, derselbe, der Ihnen den alten Moskauer Weg zeigte, erzählte mir Ihr seltsames Geschick und fügte hinzu: Reisen Sie mit dem jungen Manne, Ihre Gesellschaft wird ihm angenehm und auch nützlich sein, da Sie russisch sprechen, und die des Weges kundig sind. Also könnte ich, wenn es Ihnen gefällig wäre, einige Tage mit Ihnen reisen, bis wir an den Weg kommen, der nach Smolensk führt, wo wir uns denn wieder trennen müssen; denn über Smolensk ist der nächste Weg nach Kiew, über Moskau mögen es wohl dreißig Meilen um sein. Vergebens habe ich seit gestern und heute mein Marschiertalent aufgeboten, Sie einzuholen, ungeachtet. Sie kaum eine Werst voraus waren. Ich und der lange hagere Kolonist, wir sahen Sie, und wie dieser sich ausdrückte, dass Sie ausrissen wie Schafleder. Ich habe die Nacht wenig geschlafen, da ich es durchsetzen wollte, Sie einzuholen, und das ist mir nun nach vieler Anstrengung gelungen. Es wäre mir aber vielleicht nicht gelungen, hätte Sie der arme Schneider nicht aufgehalten.“

Hat Ihnen der arme Mann sein Leiden geklagt? fragte ich.

„Ja, er hat mir mehr erzählt, als ich erzählt haben wollte, indem mein einziges Streben war, Sie einzuholen, und ich eben deswegen nicht viel Zeit hatte, ihn anzuhören. Er hat mir auch gesagt, dass er seinen liederlichen Schwager aus lauter Barmherzigkeit mit auf die Reise nahm, um ihn vor dem Hungertode zu sichern, ungeachtet er samt seinem hungrigen Gaul selber nichts zu beißen hat!“

Der Braunschweiger war, wie ich bald erfuhr, ein höchst drolliger und origineller Bursche. Aber sein Betragen gegen mich war überaus zuvorkommend, und nie sprach er unanständig in meiner Gegenwart, wie dies von Leuten seines Standes und seiner Lebensart wohl zu erwarten gewesen wäre. Er war dieser Straße sehr kundig, und war auch in Moskau, wo er viele Jahre gelebt hatte, sehr bekannt. Er wusste Tausende der interessantesten Anekdoten zu erzählen; er hatte einen großen Teil der besten Schriften unserer Literatur gelesen und konnte augenblicklich die interessantesten Stellen aus ihnen anführen; er sprach ein ausgezeichnet schönes Deutsch, sprach auch ziemlich gut französisch, und wie mir schien, geläufig russisch. Dieses Alles, und besonders, dass er russisch sprach, schien mir den Mann auf meiner Reise fast unentbehrlich zu machen. Er trug ein altes Felleisen und einen derben Knotenstock. Ich klagte ihm nur, dass ich mich an die russischen Fastenspeisen nicht gewöhnen könne, da doch anderes Essen in dieser Zeit und auf diesem Wege nicht zu haben sei. „Nichts weiter“, sagte er lächelnd, solch einer Plage können Sie sich leicht überheben, wenn Ihre Kasse sich nur in keinem Fastenzustand befindet! Ich erinnere mich noch eines Verses, geschrieben auf einem Wirtshausschilde im Schwabenlande, er lautete also: „Das Lamm ist ein überaus geduldiges Tier, und wen es hungert und durstet, der komme zu mir. Ich kehrte ein, und hätte für Geld: Schinken, Braten, guten Wein u. dgl. m. erhalten können. Obgleich nun die Posthäuser auf der Straße von St. Petersburg nach Moskau, deren es wohl noch zwanzig geben mag, keine solche Aushängeschilder haben, die den Reisenden hineinlocken sollen, so könnten Sie doch hier Alles eben so gut, und vielleicht noch besser haben, als beim Wirt zum geduldigen Lamm, wenn, wie gesagt, Ihre Kasse sich in keinem Fastenzustande befindet.“

Unter solchen, für mich trostreichen Gesprächen, erreichten wir ein solches Posthaus. Wir kehrten ein, und ich fand die Aussage des Braunschweigers bestätigt. An den Wänden der mit prächtigen Möbeln verzierten Zimmer hingen Preisverzeichnisse in russischer, deutscher und französischer Sprache. Was mich aber am meisten überraschte, war, dass der Wirt sowohl, als auch die Aufwärter, geborene Deutsche waren. Wo hat sich der Deutsche nicht eingeschlichen! dachte ich, wo hat er nicht Wurzel gefasst! In einem fremden Lande, wo es an Eingebornen, zu einer solchen Wirtschaft geschickt, doch gar nicht fehlt, weiß er die Erlaubnis der Obrigkeit zu erlangen, um in Krongebäuden*) Wirtschaft zu treiben! weiß sich die Zufriedenheit der Reisenden zu erwerben, und die Zufriedenheit der Obrigkeit mit ihm, fortdauern zu lassen, trotz dem Neide der Eingebornen! Was ist es denn eigentlich, das den Deutschen in manchen fremden Ländern so beliebt, so achtbar, ja, sogar unentbehrlich macht? Es sind: Fleiß, Geschicklichkeit, Reinlichkeit, Geduld, unverbrüchliche Ordnung und Treue! Eigenschaften, die dem geborenen Deutschen in der Regel eigentümlich sind.

Ich ließ für mich und meinen armen Freund ein Mittagessen auftischen, mit dem wir beide zufrieden sein konnten. Eine ganz allerliebste Entdeckung! dachte ich und benutzte sie bis Moskau.

*) Diese Posthäuser sind Eigentum der russischen Regierung.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben-10-Der-Braunschweiger

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