Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Katharina II. und die Französische Revolution

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Katharina II. und die Französische Revolution

Aus: Russische Revue. Monatsschrift für die Kunde Russlands. III. Band

Autor: Prof. A. Brückner.,

Erscheinungsjahr: 1873

Enthaltene Themen: Französische Revolution, Russland, Russen, Umwälzungen, historische Persönlichkeiten, Fürstenbund, Veränderungen in Europa, politische Institutionen, soziale Zustände, soziale Reformen, Initiative Frankreichs, französische Hofsitten, Zusammenbrechen der bestehenden Verhältnisse

Die Geschichtsschreibung betrachtet weit häufiger die großen politischen Ereignisse an sich als die Wirkung, welche sie auf nicht unmittelbar an denselben Beteiligte übten. Und doch ist der Eindruck großer Umwälzungen auf die Zeitgenossen ein lehrreicher Maßstab für die Bedeutung solcher Tatsachen. Wenn wir die Urteile und Ansichten der jeweiligen Zeitgenossen über hervorragende historische Persönlichkeiten und erschütternde historische Vorgänge in hinreichender Menge kennen zu lernen Gelegenheit hätten, wir würden ein vollständigeres Bild von derartigen Menschen und Tatsachen gewinnen, als wenn wir, wie dieses häufig geschieht, Äußerungen der öffentlichen Meinung oder geistreicher und erfahrener Beobachter nur ausnahmsweise berücksichtigen.

Wenn ich es unternehme, in der folgenden flüchtigen Skizze das Verhalten der Kaiserin Katharina II. zur Zeit der großen Revolution in Frankreich diesen Ereignissen gegenüber zu schildern, so beabsichtige ich damit nicht eigentlich ein Kapitel politischer Geschichte zu schreiben. Für die Geschichte der Revolution selbst soll hier kein Beitrag geliefert werden. Indessen mag es von Interesse sein, eine so bedeutende Persönlichkeit wie die Kaiserin Katharina über welthistorisch so großartige Begebenheiten wie die große Krisis in Frankreich urteilen zu hören. Wir setzen dabei die Hauptphasen der Revolution als bekannt voraus. Es gilt uns mehr, einen Beitrag zu liefern zur Geschichte der Kaiserin und ihrer Umgebung. Nachdem so viel von ihrem unmittelbaren Eingreifen in die politischen Geschicke Europas erforscht wurde, — ich erinnere nur an die Teilungen Polens, an die Rolle, welche Russland in der orientalischen Frage damals spielte, an den Fürstenbund und wie Katharina sich zu demselben verhielt — , nachdem man mehr als genug sich mit dem Privatleben der Kaiserin abgegeben hat, wobei Klatschsucht und Lust am Skandal die hervorragenden Motive abgaben, mag es der Mühe wert sein, zu zeigen, wie die Kaiserin über das Zusammenbrechen der Monarchie in Frankreich, über die neuen Zustände in der Republik dachte und sich aussprach. Es fehlt hierbei nicht an Material zur Erörterung dieses Gegenstandes. Namentlich bis zum Jahre 1790 liefert das vor einigen Jahren veröffentlichte Tagebuch des Geheim Schreibers der Kaiserin, Chrapowitzki, reichliche Ausbeute. Einige Ergänzung liefern verschiedene Briefe der Kaiserin aus dieser Zeit. Die damalige russische St. Petersburger Zeitung, deren Durchsicht mir durch Zusendung der betreffenden Jahrgänge von der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg möglich geworden ist, dürfen wir als zum Teil von den Hofkreisen in Russland inspiriert betrachten. Hier macht sich der Einfluss der Emigrantenkreise geltend, welche am St. Petersburger Hofe eine bedeutende Rolle spielten und die Kaiserin veranlassten, an der Intervention zu Gunsten der Emigranten Teil zu nehmen. Die Darstellung dieser politischen Aktion, der diplomatischen Beziehungen Russlands zu den vertriebenen Bourbons und deren Anhängern, der Teilnahme Russlands an den Kriegen gegen das revolutionäre Frankreich liegt außerhalb unserer Aufgabe.

Wiederholt ist während der letzten Jahrhunderte für große Veränderungen in Europa überhaupt der Impuls von Frankreich ausgegangen. Das Zeitalter Ludwig XIV., die Jahre der großen Revolution und Napoleons I., die Umwälzungen der Jahre 1830 und 1848 weisen Beispiele einer solchen Initiative Frankreichs auf. Es hatte bisweilen den Anschein, als warte Europa für neue Erscheinungen und Veränderungen auf dem Gebiete der Mode und der Literatur nicht bloß, sondern auch auf dem Gebiete der politischen Institutionen und sozialer Zustände auf das Losungswort von Frankreich aus. Es repräsentierte Frankreich zu gewissen Zeiten die politische Macht, zu anderen Zeiten die konstitutionelle Weisheit, noch zu anderen die soziale Reform und vor Allem fast durchgehend den literarischen Geschmack.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts waren es noch mehr die Fürsten als die Völker, noch mehr die offiziellen Kreise Europas als die nicht offiziellen, welche als Schuler der französischen Zivilisation bezeichnet werden können. Und dies gilt auch von dem russischen Hofe. Mochte Russland für Schiffbau und Handel ein unvergleichlich stärkeres Interesse haben als England oder Holland, so war doch französische Hofsitte, französisches Zeremoniell, französische Literatur und Mode vorzugsweise dasjenige, was den Spitzen der russischen Gesellschaft als Ideal vorschwebte. Erst um das Jahr 1756, als es galt, Friedrich den Großen aus einem mächtigen Könige von Preußen wiederum in einen unbedeutenden brandenburgischen Kurfürsten zu verwandeln, beginnen regelmäßige diplomatische Beziehungen zwischen Russland und Frankreich, während dieselben zwischen Russland und anderen Mächten viel mehr entwickelt waren; aber schon früher finden sich zahlreiche russische Reisende in Paris ein, welches der Zielpunkt der vornehmen Touristenwelt wird. Nirgends in dem Maße und so leicht meinte man sich Bildung, feine Umgangsformen, literarische Kenntnisse aneignen zu können.

Es war die Zeit der Aufklärungsliteratur, die Zeit der berühmten Salons und bureaux d’esprit, wo etwa beim Baron Holbach, bei der Marquise du Deffant oder Madame Geoffrin die Spitzen der französischen Literatenwelt im Beisein mancher vornehmen Gäste aus England, Schweden, Österreich, Russland u. s. w. gewissermaßen Schule ritten, wo — allerdings nicht ohne eine gewisse Coquetterie und Gefallsucht — eine Fülle von Geist und Phantasie aufgewandt wurde, um die Hauptfragen des Staatsrechts, des Verwaltungswesens, der Wirtschaftspolizei, der Religion, der Ästhetik, der Geschichte u. dgl. m. im Konversationstone, gleichsam spielend zu beantworten. Europa lauschte und lernte: die lernbegierigsten waren jene Fürsten und Minister, welche nicht bloß die Idee der Macht repräsentierten, sondern auch durchdrungen waren von dem Gefühle der Pflicht ihren Untertanen gegenüber.

Von dieser Lernbegier zeugt der Eifer, mit welchem, in ähnlicher Weise wie Joseph II. oder Friedrich der Große, die Kaiserin sich mit den Haupterscheinungen der sogenannten Aufklärungsliteratur bekannt zu machen suchte, in ein persönliches Verhältnis zu einem Diderot trat, einen lebhaften Briefwechsel mit Voltaire unterhielt, sich über die neuen Ideen und Bücher, welche in den Pariser Literatenkreisen besprochen wurden, unterrichten ließ, dass sie nicht umsonst lernte, zeigt u. A. jene berühmte „Instruction pour dresser les lois“ aus dem Jahre 1768, worin Katharina als eine Schülerin von Montesquieu, Beccaria u. A. erscheint und die Hauptfrage berührt und erörtert, welche die hervorragendsten Geister jener Zeit beschäftigte, die Frage von einer Theorie der Gesetzgebung. Diese Liebhabereien und Studien der Kaiserin sind viel weniger bekannt als manche andere Züge aus ihrem Privatleben, die allerdings weniger erfreulich sind, aber deren Kenntnis aus Massons „Mémoires secrets sur la Russie“ oder Johannes Scherrs unsauberem Buche „Drei Hofgeschichten“ nicht irgendwie ein wahres oder vollständiges Bild von Katharina liefert. Bei solchem literarischen Schmutz und Klatsch wird man an den Satz erinnert, dass es für den Kammerdiener eines Helden keinen Helden gebe, aber noch mehr an den Zusatz: „nicht weil der Held kein Held, sondern weil der Kammerdiener ein Kammerdiener ist.“ —

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Katharina-II-und-die-Franzoesische-Revolution

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