Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Auf der sibirischen Eisenbahn nach China

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Auf der sibirischen Eisenbahn nach China

Autor: Zabel, Eugen (1851-1924) deutscher Schriftsteller,

Erscheinungsjahr: 1904

Themenbereiche Reisen  Russland Enthaltene Themen: Russland, Transsibirische Eisenbahn, sibirische Eisenbahn,

1. Nach Petersburg.

An einem schwülen Juliabend dieses Jahres brachte in Berlin der Verein russischer Studenten in den Hohenzollernsälen, die man in einer der entlegenen Straßen von Moabit suchen muss, Gorkis ,,Nachtasyl“ in der Ursprache zur Aufführung. Die jungen Leute feierten eine Art Heimatfest und führten den Ertrag der Vorstellung wohltätigen Zwecken zu. In dem Vorraum zu den prächtig eingerichteten Sälen war alles so charakteristisch umgestaltet, dass man glauben konnte, nach einer größeren Stadt im Innern des Zarenreiches versetzt zu sein.

Inhaltsverzeichnis: Nach Petersburg. Geschichte der sibirischen Bahn. Im sibirischen Luxuszuge. Von Moskau nach Tscheljabinsk. Von Tscheljabinsk nach Irkutsk. Auf dem Baikalsee. Durch die Mandschurei. Am Endpunkt der sibirischen Eisenbahn: I. Dalny. Am Endpunkt der sibirischen Eisenbahn: II. Port Arthur. Tschifu. Auf dem Stillen Ozean. Schanghai. Sikawei. Von chinesischer Schauspielkunst und Literatur. Von Asien nach Europa: Aus meinem Reisetagebuch. Land- und Wasserwege nach dem fernen Osten. Die sibirische Eisenbahn im Frieden. Die sibirische Eisenbahn im Kriege.

Schüler der Berliner Universität und des Polytechnikums in Charlottenburg gingen mit dem Ausdruck der geistigen Spannung und Erregung, die ihren Gesichtern bei solcher Gelegenheit eigentümlich ist, und dem behaglichen Gefühl, unter Landsleuten zu sein, lebhaft plaudernd auf und ab. Auf einem langen Tisch, der mit Erfrischungen bedeckt war, brodelte das Wasser in einem riesigen Samowar und aus Hunderten von Zigaretten wirbelte aromatischer Rauch auf. An der Kasse saßen junge Damen im Nationalkostüm und verkauften die Billets und Theaterzettel, während im Publikum Einladungen zur Teilnahme an Unterstützungszwecken verteilt wurden. Durch die geöffneten Türen und Fenster klangen die lustigen Weisen einer Hochzeitsmusik vom ersten Stockwerk herab, während der Vorhang auf der Bühne sich leise hin- und herbewegte und das Zeichen zum Beginn der Aufführung gegeben wurde.

Man weiß, mit welcher furchtbaren Wahrheit in dem Gorkischen Drama das Leben in einem Moskauer Nachtasyl veranschaulicht wird, in einer jener Spelunken, die noch weit armseliger und jammervoller als ähnliche Löcher in den Millionenstädten Westeuropas eingerichtet sind. Es handelt sich um eine Vereinigung von Menschen, die alle einmal bessere Tage gesehen haben und nun auf der untersten Sprosse der menschlichen Existenz angelangt sind. Diebe, Falschspieler, Trunkenbolde, Dirnen, Elende und kranke aller Art hausen unter der Erde fast wie Tiere und wissen nichts mehr von Leben und Licht, von Sonne und Freiheit. Da kommt ein sogenannter „Pilger“ zu ihnen, ein „Strannik“, der in bald drolliger, bald rührender Weise allen Trost zuspricht und sie zu bessern versucht, indem er sie mit einem Hauch von Mitleid und Menschenliebe berührt. Was wir vor uns sehen, bleibt auch zum Schluss ein übel duftender Sumpf, aber ein solcher, über den einige Sonnenstrahlen glitzernd hinwegehuscht sind. Wir sagen still und erschüttert zum Schluss zu uns: Auch das sind unsere Brüder!

Es war erstaunlich, wie die russischen Studenten sich in diese Figuren aus den „Tiefen des Lebens“ mit Leib und Seele hineinzuversetzen wussten. Sie blieben künstlerisch hinter den Berufsschauspielern des kleinen Theaters nicht wesentlich zurück und übertrafen sie sogar durch die Echtheit im Spiel und in der Charakteristik. Sie schienen es gar nicht zu wissen, wie sehr sie mit ihrer natürlichen Veranlagung ins Schwarze getroffen hatten. Es war schaudervoll und rührend zugleich, wie diese Menschen in ihren Lumpen die Treppe herunterpolterten und einander mit heiseren Stimmen anschrieen, wie sie sich auf den Bänken und Tischen räkelten und kratzten, verspotteten und beschimpften und sich gewissermaßen in ihrem Elend selbstgefällig bespiegelten.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Auf-der-sibirischen-Eisenbahn-nach-China

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