Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Auch eine Karriere in Russland

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Auch eine Karriere in Russland

Aus: Die Gartenlaube, Illustriertes Familienblatt. Nr. 1. 1864. –

Herausgeber Erst Keil. Autor: Redaktion: Die Gartenlaube. B.,

Erscheinungsjahr: 1864

Themenbereiche Auswanderung  Politik, Gesellschaft, Wirtschaft  Russland Enthaltene Themen: Russen, Russland, Petersburg, Deutsche, Auswanderung, Auswanderer, Gastfreundschaft, Enttäuschung, Arbeitsplätze, Freundschaft

Mit großem Interesse las ich in Nr. 17 der Gartenlaube die Schilderung einer „russischen Karriere“, möchte mir aber erlauben, das nachstehende Gegenstück, das die Lust zum Auswandern nach dem Reiche aller Reußen bedeutend abkühlen dürfte, aus meinem eigenen mehrjährigen Aufenthalt in St. Petersburg zu Nutz und Frommen des deutschen Publikums zu zeichnen. Es ist die in allen Details wahre Geschichte eines deutschen Landsmannes, die leider keineswegs eine vereinzelte Erfahrung ausmacht, sondern das Schicksal gar mancher durch glänzende Versprechungen nach Russland gelockter und schmählich getäuschter junger Deutschen erzählt. Wir nahten uns dem Ende des Januars.

Ein heller kalter Winterabend mit seinem vollen Sternenhimmel lag über Petersburg, die stolze Hauptstadt glänzte, von tausend Lichtern erleuchtet, in ihrer ganzen Schönheit. Tausende von Schlitten glitten unter der kundigen Leitung ihrer Führer über die glatte Schneefläche mit Windeseile dahin; auf dem Newski-Prospekt und der Großen Morskoia wogte das vollste Leben. Fürwahr, dachte ich, ist es nicht hier in der nordischen Residenz so, als ob erst im Winter das eigentliche Herzblut zum Pulsieren käme und erst jetzt die Freude ihren Einzug hielte? „Ader auch Not, Kummer und Sorgen“, ergänzte ich mich selbst und schritt den stattlichen „Englischen Kanal“ entlang, der Nikolai Brücke zu. Mein Weg führte mich nach Wassilij – Ostrow auf das andere Ufer der Newa. Welch‘ ein Abstich zwischen der Stille, die am späten Winterabende in diesem Stadtteile Petersburgs herrscht, und dem geräuschvollen Treiben auf dem Newski! In den liniierten Straßen, die Wassilij Ostrom so eintönig machen, trifft man, sobald der Geschäftsverkehr ausgeholt hat, nur noch hier und da vorübergehende Menschen an. Auf dem „Großen Prospekte“, der diesen Stadtteil seiner ganzen Länge nach durchschneidet, war schon Alles öd und leer, und am äußersten Ende desselben, im sogenannten „Galeerenhafen“, sah man nur noch vereinzelt ein Licht brennen.

Meinen Gedanken überlassen, schritt ich vorwärts, bis mich eine am Holzzaune hingekauerte Gestalt mit den Worten „Ach, lieber Herr!“ aus meiner stillen Betrachtung aufscheuchte. Still stehend, sah ich eine Gestalt sich erheben, wie sie in den größeren Städten Russlands nicht selten zu finden sind. Vor mir stand ein junges Mädchen, dessen funkelnde, schwarze Augen die Glut, die das Innere verzehrt, laut verkündigen, dessen bleiches, abgehärmtes Antlitz aber ebenso deutlich von Not und Kümmernis zu erzählen weiß. „Ach, lieber Herr!“ stammelte noch einmal das junge Weib, und ich sah nun, wie leicht sie bei solcher Winterkälte bekleidet war; der Frost schüttelte ihr die Glieder. Sofort legte ich ihr um, was ich an Pelzwerk entbehren konnte, und griff in die Tasche, ihr das Wenige zu geben, was ich bei mir hatte. Mit herzlichem Danke nahm sie Beides an, aber bat mich dann so inständig, mit ihr zu gehen, dass ich ihre Bitte nicht abschlagen mochte. Es sei nicht weit, sagte sie und zeigte auf ein kleines Holzhaus, in dem man noch ein Lämpchen schimmern sehen konnte. Auf dem Wege dahin entschuldigte sich die Kleine aber- und abermals, dass sie mich angerufen hätte, aber es sei nicht ihretwegen; auch nicht ihrer Eltern halber, sondern eines jungen Fremden wegen gewesen, der schon Monate lang bei ihnen und in großer Not sei.

Wer weiß nicht aus eigner Erfahrung, was es heißt, fern von der Heimat in einer ihm ganz fremden Welt ohne Freund, ohne eine liebe, treue Seele vereinsamt dazustehen? und wessen Gemüt neigte sich nicht demjenigen freundlich zu, der dem Vereinsamten wie dieses Mädchen nach Kräften zu helfen strebt? Bald hatten wir das Holzhäuschen, auf das Olga gedeutet, erreicht, ein enges, einstöckiges, aus übereinandergelegten starken Holzbalken dürftig zusammengezimmertes Haus hart am Strom gelegen, welcher den „Galeeren-Hafen“ bespült und so häufig die umliegenden Häuser ganz unter Wasser setzt. Mit freundlichem Willkommen wurde uns geöffnet. Wir traten in ein Stübchen, das drei Menschen zugleich zur Wohnung, zum Schlafgemach und zur Küche dienen musste, und nur von dem Öllämpchen, welches vor dem goldverzierten Heiligenbilde, dem einzigen Schmucke des Zimmers, hing, spärlich erleuchtet war. Den Willkomm bot uns die Mutter Olgas, eine ärmlich, aber reinlich gekleidete Frau, die nicht Dankesworte genug zu finden wusste, als ihr die Tochter das erhaltene Geld einhändigte.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Auch-eine-Karriere-in-Russland

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