Nachgefragt: Michael Gahler (MdEP) zu Russlandpositionen der CDU

Nachgefragt: Michael Gahler (MdEP) zu Russlandpositionen der CDU

Am Rande einer Online-Veranstaltung der Jungen Union Unterfranken zu den Beziehungen zwischen Russland und Europa stellte unsere Reporterin Julia Dudnik den CDU-Europaabgeordneten Michael Gahler einige Fragen zu seinen Positionen in der Russlandpolitik, insbesondere kontroversen Punkten. Michael Gahler ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments und beantwortete die Fragen per Email.

Julia Dudnik: In der Diskussion heute bestand die Meinung, die Sanktionen gegen Russland wären erfolgreich, da Russland in die Ukraine nicht „weiter eingegriffen“ hätte. Hier stellt sich die Frage, ob Russland einen tieferen Eingriff überhaupt geplant hat – er hätte ja auch finanzielle Folgen

Michael Gahler: Ich bin überzeugt, dass sich Präsident Putin 2014 in Sachen Ukraine in mehrfacher Hinsicht verschätzt hat.

Zum einen ist er seiner eigenen Propaganda erlegen, die davon ausging, dass die Mehrheit der Russischsprachigen in der Ostukraine gerne „heim ins Reich“ wollten und dass die Schwäche der Ukraine in militärischer Hinsicht ausgenutzt werden konnte, nachdem sich Janukowitsch nach Russland abgesetzt hatte. Auf der Krim war das wegen der Truppenpräsenz einfach. In der Ostukraine wurde in mehreren Bereichen getestet, wo man sich festsetzen konnte, es gelang schließlich in Donezk und Luhansk, scheiterte in Charkiw, Dnipro, Mariupol, Kramatorsk und anderen Orten.

Er verschätzte sich auch, was die Einigkeit des Westens und insbesondere der EU seit 2014 betraf, Sanktionen zu verhängen und durchzuhalten. Zuerst wegen der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion und dann wegen der fortgesetzten Aggression in der Ostukraine. Niemand außer der offiziellen Propaganda glaubt an einen „Bürgerkrieg“ in der Ostukraine. Ohne die russische militärische Präsenz und finanzielle Unterstützung dieser „Separatisten“ wäre dort Frieden und die über eine Million Binnenflüchtlinge in der Ukraine und viele derer, die nach Russland ausgewichen sind, wären wieder zu Hause.

Er verschätzte sich auch, was das Nationalbewusstsein in der Ukraine betrifft. Er ist es, dessen Politik dazu geführt hat, dass viele, die 1991 als „homo sovieticus“ in der Ukraine aufwachten, sich als Russen fühlten, die aber nicht mehr in Russland leben, sich solidarisiert haben mit dem Land, wo sie leben und das dieser Aggression ausgesetzt ist. Mit einem Russland, was ein angebliches „Brudervolk“ so behandelt, will man nichts mehr zu tun haben.

Er verschätzte sich, was die politische Radikalisierung in der Ukraine angeht. Während seit 2014 die Behauptung eines „faschistischen Umsturzes“ in Kiew in Russland verbreitet wurde, haben die rechtsnationalistischen Parteien es 2014 und 2019 nicht über die 5%-Hürde geschafft, nur einzelne haben Wahlkreise gewonnen. Und seit es einen Ministerpräsidenten Hroysman gab und seit letztem Jahr einen Präsidenten Selensky, beide jüdischer Herkunft, ist das mit dem Feindbild „Faschisten“ offensichtlich lächerlich. Selensky ist offenbar in den sozialen Medien in Russland beliebt und deswegen gefährlich, weil er schon am Wahlabend Richtung Russland dazu aufgerufen hat, dass man es den Ukrainern nachmachen sollte, amtierende Staatschefs abzuwählen.

Er verschätzte sich bei den Kosten und ahnte nicht, wie weit der Öl- und Gaspreis fallen würde. Die Krim allein kostet die russische Rentenkasse. Und weil er die Krim, die Ostukraine, Abchasien, Südossetien, Transnistrien und den Syrienkrieg finanzieren muss, reicht es nicht, auch noch weiter in der Ukraine vorzudringen. Auch weil die ukrainische Armee heute viel stärker ist als 2014 und er weiß, dass ein Vormarsch weitere schärfere Sanktionen des Westen nach sich ziehen würde.

Julia Dudnik: Russland wurde heute auch kritisiert, da es nach dem Status einer Weltmacht strebt. Was ist schlimm daran? Ist es bei den USA auch schlimm, dass sie eine Weltmacht sein will?

Michael Gahler: Das ist eigentlich eine historische Tragik, weil sich der Weltmachtstatus der UdSSR damals und des heutigen Russlands allenfalls aus militärischen Gründen ergibt, also weil man so viele Atomraketen hat. Russland ist wirtschaftlich schwach, im Gegensatz zu den USA und China und der EU, daraus ergibt sich kein Weltmachtstatus.  Russland hat es leider nie verstanden, Einfluss dadurch auszuüben und dadurch stärker zu werden, dass man gegenüber seinen Nachbarn auch freundlich, attraktiv sein kann, um Vertrauen wirbt, vielleicht sogar als Vorbild eine Faszination ausübt, damit die Nachbarn sagen: Hej, die Russen sind top, mit denen müssen wir viel mehr kooperieren. Die russischen Menschen haben es nicht verdient, dass ihre orthodoxe Führung zu Zarenzeiten, in Sowjetzeiten und heute wieder den Eindruck vermittelt, der Rest der Welt sei immer gegen Russland und Weltpolitik sei ein Nullsummenspiel, wenn ich gewinne, verliert der andere und umgekehrt. Wenn man versteht, dass es keine 1. Klasse und 2. Klasse Nationen in Europa gibt, dass man Freunde gewinnen kann, wenn man aus der Geschichte lernt, dass eine Entschuldigung für Verbrechen der Vergangenheit nicht demütigt, sondern befreit und Vertrauen beim Gegenüber weckt, dann wird man stärker, weil man so viel mehr gewinnt. Vergleichen Sie Deutschland und Russland: am 23. August 1939: am Tag des Abschlusses des Molotov-Ribbentrop-Paktes und der geheimen Zusatzprotokolle waren Deutsche und Russen in den Augen aller anderen Europäer das allerletzte, weil unsere beiden Diktatoren Europa mit einem Strich auf der Karte untereinander aufgeteilt haben: links für Hitler, rechts für Stalin. Und heute würde ich mir wünschen, dass Deutsche und Russen gleichermaßen wertgeschätzt würden von all den Völkern, die wir mal besetzt hatten. Ich bin froh als Deutscher, dass wir den Ballast der Geschichte abgeworfen haben, weil wir uns den dunkeln Kapiteln schonungslos gestellt haben und ehrlich sagen: nie wieder. Ich fühle mich als deutscher Europaabgeordneter heute unbefangen und frei im Umgang mit allen Partnern, weil ich weiß, ich habe nichts zu verbergen und die anderen haben keine Angst vor mir und wenn es was zu kritisieren gibt, dann wird das zivilisiert ausgetragen und am Ende stimmen wir mit Mehrheit im EP ab und wenn man immer noch nicht zufrieden ist, geht man zum Europäischen Gerichtshof und klärt das dort und nicht im Schützengraben. Wenn es Russland schafft dorthin zu kommen, dass niemand mehr Angst vor Russland hat, sondern das Land und seine Menschen achtet und wertschätzt, weil man sieht, dass man eine win-win-Situation hat, weil es zum gegenseitigen Vorteil ist, dann ist Russland geachtete Weltmacht aus eigenem Recht und nicht, weil es Atomraketen hat und Nachbarn überfällt und man „Weltmacht der Angst“ ist.

Julia Dudnik: Empfindet Russland die „östliche Partnerschaft“ der EU nicht als Bedrohung an der eigenen Grenze?

Michael Gahler: Die Politik der östlichen Partnerschaft mit sechs Ländern, die die EU seit 10 Jahren so bezeichnet, auch vorher gab es bereits engere Beziehungen, ist von Russland aus meiner Einschätzung über viele Jahre nicht als relevant wahrgenommen wurden. Wir hatten ja parallel mit Russland auch Sonderbeziehungen, schon in den 90ern mit Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, TACIS-Programm zur Modernisierung, dann sprach man schon damals von der Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok und bemühte sich um die WTO-Mitgliedschaft Russlands, aber auch darum, dass sich Russland durch Modernisierung schneller entwickeln würde. Denn eine Freihandelszone mit einem nicht modernisierten Russland würde dazu führen, dass wir mit unserer Wirtschaftskraft Russland platt machen würden. Das wollten und wollen wir nicht, deswegen gab es ja offiziell das Angebot einer Modernisierungspartnerschaft. Letztlich war die Absicht mit dem gesamten postsowjetischen Raum möglichst enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu haben. Deswegen haben sich Putin und Medwedew in den Jahren 2006-2012, wo es alle sechs Monate einen EU-Russland-Gipfel gab, nicht ein einziges Mal darüber beschwert, dass wir mit der Ukraine schon ein Stück weiter in den Verhandlungen über ein Assoziations- und Freihandelsabkommen waren, denn mit Russland waren wir ja noch beschäftigt, das Land in die WTO zu bekommen und danach sollte eine identische Verhandlung beginnen. Freihandelsabkommen kann man untereinander schließen, als EU-RUS, EU-UKR und RUS-UKR. Kein Problem. Erst dann, wenn zwei der drei eine Zollunion schließen wollen, dann passt das mit dem Dritten als Freihandelspartner nicht mehr. Erst im November 2013 erkannte Putin, dass sich Janukowitsch nicht mehr lange halten würde, „verbot“ ihm die Unterzeichnung mit der EU in Vilnius und dachte, sein „Partner“ würde die daraufhin beginnenden Proteste niederschlagen können. Als sich abzeichnete, dass die Menschen die korrupte Truppe um Janukowitsch zum 2. Mal nach 2004 zum Teufel jagen würden (die Ukrainer hatten die Schnauze von ihren Oligarchen voll, die brauchten dafür keine Ermunterung aus dem Westen) begann Panik in Moskau, denn es war ja kurz zuvor zu Beginn von Putins 3. Amtszeit auch zu großen Demonstrationen gekommen und ein Erfolg der Straße in Kiew hätte in Russland sicher Nachahmer gefunden. Das musste verhindert werden, es wurde die Mär vom faschistischen Putsch in Kiew erfunden, behauptet, Russischsprachige würden verfolgt (in Kiew wird bis heute mehr russisch gesprochen als ukrainisch, auf der Krim gab es nie antirussische Aktionen und dort wo es stärkere antirussische Ressentiments gibt, wie im Westen der Ukraine, leben kaum Russischsprachige). Und weil inzwischen auch der Öl- und Gaspreis zu sinken begann, war die Befürchtung, man könne die eigenen Russen, die ja auch zumindest in Moskau und St. Petersburg ein Protestpotenzial haben, nicht mehr materiell bei Laune halten, musste was anderes herhalten: Was macht man also in verunsicherten, verletzten, enttäuschten Gesellschaften, wenn man materiell keinen Trost schaffen kann ? Nationalismus geht immer, da schwillt die Brust, da wird die Krim heim ins Reich geholt.

Und wenn das die Nachbarn erleben, dann sind die erleichtert, die sich schon unter den Schutzschirm der NATO haben flüchten können und die, die noch draußen stehen, haben Angst und drängen noch mehr. Es ist die Attraktivität des Westens und die bedauerlicherweise nicht zu Unrecht  empfundene Angst vor Russland, die dazu führt, dass ein Land wie die Ukraine in seine Verfassung das Ziel der NATO- und EU-Mitgliedschaft schreibt. Ein Russland, das sich so verhalten würde, wie ich es im Punkt 2 beschrieben habe, würde so eine Reaktion nicht provozieren. Vor 2014 war immer eine Mehrheit der Ukrainer gegen eine NATO-Mitgliedschaft, aber nach dem Bruch des Budapester Memorandums von 1994, in dem Russland die territoriale Integrität der Ukraine nicht nur anerkannte sondern garantierte, braucht man sich nicht zu wundern, dass zu unseren Lebzeiten dieser Wunsch nach Sicherheit im westlichen Bündnis Mehrheitswunsch bleiben wird, denn so, wie in den besetzten Gebieten der Ukraine im Osten, will in der Ukraine kaum einer leben.

Julia Dudnik: Harte Kritik gab es heute am russischen Militäreinsatz in Syrien. Die NATO hat in Syrien auch Bomben geworfen – die deutsche Luftwaffe hat mit Aufklärung dazu beigetragen. Wo ist denn da der Unterschied zwischen der NATO und Russland?

Michael Gahler: Wir haben als NATO-Staaten in Syrien gezielt nur den IS bekämpft, der ein gemeinsamer Gegner der gesamten Staatengemeinschaft war und ist. Wir haben in der Tat gehofft, dass das Assad-Regime ähnlich wie Ben Ali in Tunis, Ghaddafi in Tripolis und Mubarak in Kairo von den Bürgern beseitigt würde, ein Familien-Clan, der seit Jahrzehnten von Vater Assad auf den Sohn vererbt eine ganz üble Diktatur einer 10%igen ethnischen Minderheit der Alauwiten praktiziert, unterstützt von 10% Christen gegen 80% sunnitisch-arabische und kurdische Muslime. Im Gegensatz zum Assad-Regime und Russland haben wir nie gezielt Wohnviertel, Krankenhäuser und Schulen angegriffen. Russland und Assad begehen Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung mit dem Vorwand gegen Terroristen zu kämpfen. Assad möchte möglichst viele Millionen sunnitische Syrer und Kurden außer Landes treiben, damit seine Minderheit nicht mehr gar so klein ist und weil er Russland die Militärbasen in Tartus und Latakia garantiert und russische Waffen kauft, wird er von Moskau an der Macht gehalten. Und nebenbei sorgen die Millionen syrischen Flüchtlinge außerhalb des Landes dafür, dass die Türkei und die EU dadurch geschwächt werden und Milliarden für humanitäre Hilfe ausgeben müssen, in Europa, aber auch in der Türkei, Jordanien und im Libanon. Wir hätten den Syrern anderes zu bieten als Bomben und Elend. Im Gegensatz zu Syrien, Russland aber auch der Türkei erlaubt eine demokratische Öffentlichkeit in der EU den Regierenden auch nicht Aggressionskriege zu führen. So jemand wird bei uns abgewählt.

Foto: Europäisches Parlament / EU, Creative Commons 2.0

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