Nach Wirbel um Schülerrede zum Volkstrauertag: Längst nicht alle Soldaten der Wehrmacht waren Mörder

[Kommentar von Julian Müller] Sichtlich nervös berichtet der russische Gymnasiast Nikolaj Desjatnitschenko vom Schicksal des 21 Jahre alten Wehrmachtsgefreiten Georg Jochen Rau, welcher in Stalingrad gefangen genommen wurde und 1943 in russischer Haft starb: „Seine Geschichte hat mich tief berührt und dazu bewogen, die Begräbnisorte von Wehrmachtssoldaten zu besuchen. Das hat mich sehr traurig gemacht, denn ich habe dort die Gräber unschuldig gefallener Menschen gesehen, von denen viele einfach nur in Frieden leben und nicht kämpfen wollten. Sie haben während des Krieges unerhörte Qualen auf sich genommen – davon hat mir mein Uropa, auch Kriegskämpfer, berichtet“

Diese Worte im Rahmen einer zweieinhalb minütigen Rede, gehalten im Plenarsaal des Deutschen Bundestages anlässlich der Feierlichkeiten zum Volkstrauertag, haben in Teilen der russischen Gesellschaft für Empörung und Aggressionen gesorgt. Vor allem in den sozialen Netzwerken kochten die Emotionen hoch, der Schüler wurde des Verrats am Vaterland beschuldigt und teilweise mit Gewalt bedroht. Der Hauptvorwurf: Desjatnitschenko habe Mitleid mit einem „schuldigen“ Wehrmachtssoldaten gehabt und somit den deutschen Überfall auf die Sowjetunion relativiert.

Die Frage der Schuld

Um es gleich zu Beginn zu sagen: Selbstverständlich darf man Mitleid mit gefallenen deutschen Soldaten haben – damit verbindet sich keinerlei Bewertung bezüglich der verbrecherischen Ziele des Krieges. Der Gefreite Rau wurde 1922 geboren und zählt damit zu den Jahrgängen, welche das Gros der Kriegsopfer stellen. Sie waren durch den Zufall ihres Geburtsdatums doppelt gestraft: Zunächst zu alt, um in den Genuss von Kohls berühmter Gnade der späten Geburt zu kommen. Auf der anderen Seite so jung, dass sie die niedrigsten Dienstgrade bekleidet haben. Folglich hatten diese Soldaten an den Fronten die Drecksarbeit zu verrichten und wurden dabei als Erste in den Stahlgewittern des Krieges zermalmt.

Die Frage, wie der Nationalsozialismus entstehen konnte, ist intellektuell überaus anspruchsvoll und erlaubt bei rationaler Auseinandersetzung keine einfachen Antworten. Die Frage, wer sich damals schuldig gemacht hat, indem er durch sein Handeln den Nationalsozialismus mit ermöglicht hat, wird niemals vollumfänglich beantwortet werden. Von Schuld ist die Rede, wenn jemand einen Verstoß gegen diejenigen Regeln begeht, welche von der großen Mehrheit der Menschen als Grundlage für das Zusammenleben wahrgenommen und akzeptiert werden. Den meisten Definitionen von Schuld ist gemein, dass der Schuldige einen anderen, normgemäßen Weg statt des normabweichenden Weges hätte wählen können.

Genau dies muss in Bezug auf die Soldaten bezweifelt werden, welche um 1920 geboren wurden. Sie waren nicht wie Menschen älterer Jahrgänge diejenigen, welche den Nationalsozialismus erschaffen und ermöglicht und nicht selten auch bejubelt haben. Sie wurden während der 30er Jahre sozialisiert und haben nie etwas Anderes kennen gelernt. Sie waren Produkt und nicht Erbauer eines totalitären Systems. Ein zentrales Merkmal totaler Herrschaft ist es, dass die Menschen glauben, die Geschehnisse um sie herum nicht beeinflussen zu können und dass diese folglich ihr Schicksal darstellen. Man muss versuchen, sich beispielsweise in einen damals 19-Jährigen herein zu versetzen, anstatt Geschichte stets vom Ende zu denken und großspurig mit dem moralischen Zeigefinger herumzufuchteln. Hört man die Berichte von Leuten, welche in ihrer Jugend in den Krieg gezogen sind, so ist dort immer wieder die Rede davon, dass man damals geglaubt hat, dass es sich bei dem Krieg um ein Naturereignis gehandelt hat.

Die Frage, nicht in den Krieg zu ziehen, hat sich überhaupt nicht gestellt. Der heutige Vorwurf, dass diese Soldaten den Nazis gedient haben, war damals kein Vorwurf – folglich hat sich niemand damit beschäftigt. Man sollte einmal darüber nachdenken, inwiefern sich diese Menschen damals schuldig gemacht haben und nicht gleich anfangen, unqualifiziert zu labern. Auch wusste keiner der jungen Kriegsteilnehmer, welchen weiteren Verlauf der Nationalsozialismus bis zum Holocaust als traurigem Höhepunkt nehmen wird und wie die Geschichte einmal über diese Zeit urteilen wird. Hier sind wir beim zentralen Punkt der vollkommen unangemessenen Angriffe auf Nikolaj Desjatnitschenko aufgrund seiner Worte von „unschuldig gefallenen Soldaten“: Geschichte ist stets Politik.

Verantwortung für die Vergangenheit

Geschichte ist nicht einfach die Gesamtheit der Ereignisse, welche sich in der Vergangenheit zugetragen haben. Die Frage, welcher Ereignisse gedacht wird, wie diese bewertet und in welchen Zusammenhang diese eingeordnet werden, ist hochgradig politisch. So dient die Geschichtspolitik nicht selten dem Zweck, weltanschauliche Überzeugungen zu untermauern und ideologisch abzusichern. In diesem Zusammenhang ist es nur recht und billig, von der Vergangenheit ein Bild in schwarz und weiß zu zeichnen. Für die Nationalisten, welchen den Schüler wegen seiner Worte attackiert haben, ist der „Große Vaterländische Krieg“ bis heute das Fundament der nationalen Identität Russlands. Sie haben nie verwunden, dass Russland mit dem Untergang der Sowjetunion seinen Status als Weltmacht eingebüßt hat und klammern sich dementsprechend an dem Sieg im Zweiten Weltkrieg fest. Jede abweichende, differenzierte Meinung wird dementsprechend hochgradig emotional angegriffen.

Doch auch in der Bundesrepublik wurde die Debatte um die deutsche Vergangenheit lange Zeit mit beachtlicher Irrationalität und Emotionalität geführt. Für linke Kreise war Tucholskys Sentenz „Soldaten sind Mörder“ die Grundlage ihres Weltbildes. Auf der konservativ-nationalen Seite standen diejenigen, welche von der „sauberen Wehrmacht“ redeten und den 8. Mai 1945 nicht wie Richard von Weizsäcker für den „Tag der Befreiung“, sondern für den „Tag der Niederlage“ hielten. Ich habe beide Seiten in meiner Familie kennen gelernt. Mein Großvater, Jahrgang 1924 und Soldat an der Ostfront. Und meine Tante, Jahrgang 1961 und in ihrer Studienzeit Mitglied von DKP und SDS. Um es kurz zu machen: Beide Seiten liegen falsch. Beiden Seiten war und ist stets wichtiger, rein emotional eine bestimmte Rolle einzunehmen, auf den eigenen Standpunkten zu beharren und aufeinander loszugehen.

Für jemanden, der nach 1990 geboren wurde, sind solche Konfliktlinien bezüglich der Bewertung der deutschen Geschichte ein Relikt vergangener Zeiten. Die alten Schlachten um die Vergangenheit sind geschlagen. Vielmehr ist geboten, sich dieser komplexen Themen rational und ergebnisoffen anzunehmen. Für Deutsche und Russen ergibt sich eine Verantwortung daraus, dass sich ihre Völker den blutigsten Waffengang in der Geschichte der Menschheit geliefert haben. Dies heißt weder, dass die Deutschen auf ewig verdammt sind, noch, dass die Russen nicht mehr den Tag des Sieges feiern dürfen. Vielmehr geht es darum, den Wirrungen der älteren Generationen und den damit verbundenen Ausfällen entgegenzutreten und nicht in alten Denkmustern zu verharren. Diejenigen, welche heute in etwa so alt sind wie der gescholtene russische Schüler, haben diesen Krieg nun einmal nicht geführt und können diesen auch nicht ungeschehen machen. Dies trifft zwar auch auf die Eltern der jetzigen Generation zu, doch diese mussten sich schließlich noch damit beschäftigen, gegen ihre Eltern aufzubegehren, welche den Nationalsozialismus miterlebt haben. Heute ist die Bahn frei für eine weitaus weniger politisierte Auseinandersetzung, um aus der These der Großeltern und der Antithese der Eltern eine Synthese herzustellen und im Rahmen dieser Dialektik einen Erkenntnisfortschritt zu erzielen.

Zum Schluss kann man sich vor dem Hintergrund all der Gedanken in diesem Text einmal vor Augen halten, wie abgrundtief niederträchtig es ist, Nikolaj Desjatnitschenko vorzuwerfen, den Tod von deutschen Soldaten zu bedauern. Selbst wenn jemand ein knallharter Nazi war, welche es bei der Wehrmacht neben den jungen und weitgehend unschuldigen Soldaten ebenfalls in großer Zahl gab, so ist es vollkommen unangemessen und schäbig, sich über dessen Tod zu freuen. Mit dem Tod endet jede Feindschaft, hat der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel einmal in Bezug auf Terroristen der RAF gesagt, als es darum ging, diese anständig zu beerdigen. Dies gilt für die Deutschen selbstverständlich auch gegenüber gefallenen Angehörigen der Roten Armee. Denn welche Rolle spielt bei der Trauer die Nationalität?

[Julian Müller/russland.NEWS]

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