Die Tretjakow-Galerie ist eine einzigartige Sammlung russischer Malerei und Skulptur und ist das meistbesuchte Kunstmuseum in Moskau. Zelfira Tregulova erzählte russland.NEWS, wie das Museum während der Pandemie überlebt und warum die Menschen in Russland Kunst so sehr lieben.
Zelfira Ismailovna, fast alle Museen der Welt sind wegen der Pandemie geschlossen. Die Tretjakowka hatte also auch keine Ausstellungen mehr gemacht?
Eine der am meisten erwarteten Ausstellungen des vergangenen Jahres, die Ausstellung von Natalia Gontscharowa, wurde am 28. Februar in der Nationalgalerie in Helsinki eröffnet. Und nur zweieinhalb Wochen später wurde das Kunstmuseum Antenum – genau wie wir – wegen Quarantäne geschlossen. So wurden viele Projekte verschoben und einige sogar gestrichen. Die Tatsache, dass die Museen fast überall geschlossen sind, wirft für mich und meine Kollegen zunächst viele Fragen auf. Immerhin erfüllen wir alle Anforderungen: Die Tickets werden überwiegend online verkauft, wir hatten 25 Prozent der bisherigen Besucher, wie gefordert. Das bedeutet, dass sich immer nur wenige Personen in einer Museumshalle befinden, die alle Masken tragen. In jedem großen Einkaufszentrum ist die Situation viel schlimmer. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass die Menschen heute mehr denn je die heilende Kraft wahrer Kunst brauchen. Beim Betrachten der Leinwände der großen Meister denkt man nicht an das Coronavirus, sondern an etwas Schönes, das uns hilft, einen Gang zurückzuschalten und zu erkennen, dass alle unsere Ängste relativ sind. In der Zeit vor dem Jahreswechsel und den Weihnachtsfeiertagen denke ich mit Traurigkeit daran, dass den Menschen dieses Glück genommen wird.
Aber sicher wird die Tretjakow-Galerie zum Jahreswechsel etwas Besonderes für Kunstliebhaber bieten?
Ja, natürlich. Wir zeigen die erste große retrospektive Ausstellung von Robert Falk. Außerdem beenden wir die Arbeit an der Ausstellung über die Geschichte der kinetischen Kunst in Russland. Bei beiden Ausstellungen bieten wir Online-Touren an und warten auf die Eröffnung. Und wir bereiten auch ein wunderbares Neujahrsgeschenk vor – ein Konzert von der großen russischen Sopranistin Aida Garifullina, das wir ohne Publikum im Saal von Wrubel aufgenommen haben. Normalerweise sind 200 Leute in diesem Saal und wir führen hier wunderbare Musikfestivals durch. Doch diesmal musste die berühmte Sängerin für die Kameras singen.
Dann lassen Sie uns beim Online-Format bleiben. Sie haben ein sehr interessantes Projekt gemacht – Ihre Spaziergänge durch die Hallen der Tretjakow-Galerie mit berühmten russischen Musikern und Künstlern.
Wie erzählt man einem kunstfernen Menschen von der Malerei, und zwar so, dass er sie versteht, dass sie ihn fasziniert, dass er vor einem Bildschirm sitzt und dass der Erzähler kein langweiliger Dozent ist? Und wir haben ein solches Format gefunden. Der erste Film mit dem berühmten russischen Rockmusiker Sergey Schnurow, der in Wirklichkeit ein sehr gebildeter Mann ist, hatte mehr als eine Million Aufrufe. Denn wir haben gezeigt: Ein Museum ist kein langweiliger staubiger Ort, sondern es ist cool, es regt zum Nachdenken an, es lädt mit Emotionen auf. Und es ist einfach nur schön.
Auch Museen müssen Geld verdienen. Der Louvre zum Beispiel hat einen interessanten Weg eingeschlagen und veranstaltet Auktionen, bei denen man einen nächtlichen Museumsbesuch oder eine Besichtigung der Gioconda ohne Panzerglas gewinnen kann.
Mit den publikumswirksamen Ausstellungen haben wir einen großen Teil unseres Budgets selbst erwirtschaftet. Allein im letzten Jahr haben wir es geschafft, 42 Prozent des Budgets selbst zu decken. Wir bekommen 22 Prozent von Sponsoren und 36 Prozent von der öffentlichen Hand finanziert. Im Jahr 2020 waren wir fünf Monate lang geschlossen, mit zwei Dritteln weniger Besuchern und damit weniger Einnahmen. Im Jahr 2019 hatte die Galerie 2,8 Millionen Besucher und in diesem Jahr nur 927.000. Das Sponsoring ist um 35 Prozent zurückgegangen, denn es werden die Projekte gesponsert, nicht das Museum als solches. Wir müssen also neue Wege finden, um Geld zu verdienen. Bei uns ist also ein Online-Shop eröffnet und ein Café, es laufen Filmvorführungen. Wir würden den Erfolg unserer Online-Projekte gerne monetarisieren, aber auf der anderen Seite verstehen wir, dass die Menschen aufgrund der Krise weniger Geld haben. Sind sie bereit zu zahlen? Deshalb können wir keine kleinen Besuchergruppen für viel Geld einlassen.
Sie haben den Erfolg der Ausstellungen der Tretjakow-Galerie in den letzten Jahren erwähnt. In der Tat sorgten die Ausstellungen von Ilya Repin, Walentin Serow und Iwan Aiwasovsky für einiges Aufsehen. Die Menschen waren bereit, bis zu drei Stunden in der Eiseskälte zu stehen, um die Bilder zu sehen. Und einmal wurde sogar die Eingangstür aufgebrochen. Wie erklären Sie sich ein solch erstaunliches Interesse an Kunst? Ist es ein rein russisches Phänomen?
Nun, der Fall mit der Tür in der Serow-Ausstellung ist auch unsere Schuld. Wir hatten zwei Warteschlangen – mit E-Tickets und an der Museumskasse, und diese beiden Warteschlangen stießen an der Tür zusammen, was zu einer Drängerei führte. Was Ihre Frage betrifft, so denke ich, dass es sich um ein sowjetisch-russisches Phänomen handelt. Diese Leidenschaft für die Künste, diese Bereitschaft, auf Bequemlichkeit zu verzichten, um ein Gemälde zu sehen, Musik zu hören, das war schon immer da. Ich erinnere mich, wie ich in meiner Jugend stundenlang nachts in der Schlange stand, um die Gastspiele des Béjart-Balletts in Moskau zu bewundern. Das hohe Bildungsniveau im Land und die begrenzten Möglichkeiten, etwas Besonderes zu sehen, was vorher nicht möglich war, waren der Grund dafür. Dann ging das weg und kam tatsächlich erst mit der Serow-Ausstellung 2016 zurück. Können Sie sich vorstellen, dass mir selbst Tickets von Spekulanten angeboten wurden? Als ich Kollegen im Metropolitan Museum die Warteschlangen für diese Ausstellung zeigte, waren sie sprachlos. Allein am ersten Samstag kamen viertausend Besucher zur Ausstellung, und wir hatten keine besondere Werbekampagne gemacht, nur ein Video. Vor der Eröffnung der Ausstellung haben bereits mehr als eine halbe Million Menschen das Video gesehen (unsere Videos erhalten übrigens regelmäßig sehr renommierte internationale Auszeichnungen). Nach der Ausstellung kamen viele Kunstfreunde auf mich zu und sagten: „Ja, in der Schlange zu stehen war sehr unangenehm, aber danach hatten wir drei Stunden pures Glück“.
[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]
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