„Moskau glaubt den Tränen nicht“- russische Hauptstadt zu Coronazeiten@ russland.NEWS

„Moskau glaubt den Tränen nicht“- russische Hauptstadt zu Coronazeiten

„Würden Sie bitte Handschuhe anziehen? Wir werden heute massiv kontrolliert“, bittet mich Marina in der Reinigung. Ich füge mich und ziehe dünne Plastikhandschuhe über, die in einer Schale neben Schutzmasken und einem Desinfektionsmittel für Kunden ausliegen.

Wer macht denn die Kontrollen, möchte ich wissen. „Rospotrebnadzor“, lautet die Antwort (Föderaler Dienst für die Überwachung des Schutzes der Rechte der Verbraucher und des menschlichen Wohlbefindens). „Die Beamten müssen ja ihre Daseinsberechtigung beweisen“, meint Marina und schüttelt den Kopf. Russland ist das einzige Land in der Welt, wo nicht nur Masken- sondern auch Handschuhpflicht gilt. Allerding sehe ich kaum Menschen, die beides tragen. „Die Härte russischer Gesetze wird durch die Unverbindlichkeit ihrer Umsetzung gemildert“, hat vor mehr als 150 Jahren ein russischer Schriftsteller gesagt.

Am gleichen Tag lese ich eine Meldung, dass die Verwendung von Handschuhen unwirksam sei. Es ist viel wichtiger, vor und nach der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ein Antiseptikum an Händen zu verwenden, erklärte der Chefspezialist für Infektionskrankheiten des russischen Gesundheitsministeriums, Wladimir Tchulanow. „Der Hauptübertragungsweg des Virus (neunzig Prozent) führt über die Luft, und nur zehn Prozent auf dem Kontaktweg, wenn wir die Oberfläche berühren, auf der das Virus mit unseren Händen verbleibt, und dann unsere Augen und unseren Mund berühren. Diese zehn Prozent spielen keine bedeutende Rolle“, erklärte der Mediziner der Nachrichtenagentur Interfax. Außerdem werden Handschuhe falsch entsorgt, so Tchulanow.

Inzwischen wirkt die russische Hauptstadt immer leerer. Lauf offiziellen Angaben fahren täglich ungefähr eine Million Passagiere weniger als sonst mit der Moskauer Metro. Insgesamt ist die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel um 39 Prozent zurückgegangen. Seit Anfang Oktober müssen Moskauer Unternehmen 30 Prozent der Mitarbeiter in die Fernarbeit schicken. Doch das Kulturleben bleibt nicht stehen. Ich freue mich auf ein Konzert des bekannten russischen Schriftstellers Alexander Tsypklin, in dem er seine leicht satirischen Texte liest. Doch das Konzert findet ohne den Autor statt. „Ich habe Corona“, erklärt mir Alexander am Telefon und hustet heftig zur Bestätigung in den Hörer. Mir vergeht langsam die Lust auszugehen.

Anstelle von kulturellen Freuden wähle ich gastronomische. Zum Glück muss ich dafür nicht das Haus verlassen. Mit Hilfe derselben App von Yandex, mit der ich ein Taxi bestelle, kann ich jede Küche der Welt frei Haus liefern lassen. Hier besteht nur die Qual der Wahl. Es kostet mich eine Stunde zwischen unzähligen Restaurants georgischer Küche zu entscheiden und zwei Minuten, meine Bestellung zusammenzustellen. Die App informiert mich, wann das Essen zubereitet und dem Kurier übergeben wird. „Ihre Bestellung ist unterwegs und wird in zwanzig, fünfzehn, zehn, fünf Minuten zugestellt!“ Endlich! Der Betrag wird von meinem Konto abgezogen erst nachdem das Essen geliefert wird. Trinkgeld kann ich auch online geben, sogar die möglichen Summen sind schon angegeben.

Allerdings muss ich heute trotzdem raus – eine kleine Konferenz findet ausnahmsweise offline statt. In der Pause erzähle ich stolz, wie ich nach Moskau gekommen bin: mit einem Direktflug aus Frankfurt am Main! Die gibt es ja nur bis Ende Oktober, deswegen fliege ich auch bald zurück! Doch ein Konferenzteilnehmer bremst mein Enthusiasmus aus: Sowohl Lufthansa als auch Aeroflot setzten ihre Flüge zwischen Moskau und Frankfurt auch im November fort. Die finden zwar nur zweimal die Woche statt, aber immerhin. Hätte ich das bloß früher gewusst! Doch solche Information findet man nicht ohne Weiteres im Netz.

Ich fahre mit dem Taxi durch das nächtliche Moskau. Die Maßnahme mit der Fernarbeit scheint die ewigen Moskauer Staus kaum verringert zu haben. Die Stadt wirkt allerdings dunkler als sonst: Die meisten Hotel- und Schaufenster im Zentrum sind nicht wie gewohnt beleuchtet. Sie bleiben dunkel.

Inzwischen heißt es, die russischen Behörden planen keine strengen restriktiven Maßnahmen im Rahmen der Coronavirus-Pandemie, wie Wladimir Putin am Mittwoch auf dem Kongress der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer ankündigte. Das würde die russische Wirtschaft auch nicht verkraften. Nicht mal in Moskau, einer Stadt, die, wie das berühmte russische Sprichwort sagt, „nicht den Tränen glaubt“.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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