Michael Thumann: „Eine Mischung aus Super- und Regionalmacht“Michael Thumann

Michael Thumann: „Eine Mischung aus Super- und Regionalmacht“

Michael Thumann ist außenpolitischer Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit. russland.NEWS sprach mit ihm über das Verhältnis Russlands zur EU und zu den USA.

Herr Thumann, im 20. Jahrhundert lebten wir in einer sogenannten bipolaren Welt. Der Kampf zwischen den USA und der Sowjetunion bestimmte die Agenda. Vor einigen Jahren nannte Präsident Obama Russland eine regionale Macht, doch jetzt scheint Russland auf das politische Parkett zurückgekehrt zu sein. Wo steht Russland jetzt?

Michael Thumann: Diese Aussage von Obama war natürlich absurd und eine Verbindung von gewollter Provokation und Vernachlässigung gewisser Faktoren. Ich glaube, dass Russland eine Mischung aus Supermacht und einer Macht unter vielen ist. Was seinen globalen Einfluss und nukleare Abschreckung angeht, ist Russland ganz bestimmt eine Großmacht. Was die russische Wirtschaftsleistung und seine Rolle im globalen Handel betrifft, ist das Land eher eine lokale Macht. Also hängt das ganz vom Blinkwinkel des Betrachters ab.

Wenn man über den Kalten Krieg denkt, denkt man immer an die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland. Jetzt kommt aber China ins Spiel und das Kräftemessen zwischen den USA und China ist in aller Munde. Ist das ein Kalter Krieg zwischen anderen Akteuren?  

Michael Thumann: Es ist absolut kein neuer Kalter Krieg, sondern viel mehr eine Konfrontation auf verschiedenen Ebenen mit vielen Spielern. Zumal wir nicht wissen, ob sich die Vereinigten Staaten unter Trump zunehmend in eine Autokratie verwandeln, wodurch das Land China viel ähnlicher würde – und der Systemgegensatz verwischen würde. Dies werden die Wahlen im November entscheiden. Also, wir haben es heute mit einer Vielzahl von Akteuren zu tun, so dass ich eher über eine große Unordnung reden würde. Der Kalte Krieg hatte eine innere Statik mit zwei klaren Supermächten, die heute fehlt.

Sie sagten bei den Potsdamer Begegnungen, dass Russland und Deutschland in diesem Machtkampf der beiden Supermächte ihren Platz finden müssen und sogar vielleicht profitieren können. Können Sie diesen Gedanken präzisieren?

Michael Thumann: Deutschland und Russland werden auf völlig unterschiedliche Art gezwungen werden, in der Rivalität zwischen den USA und China Stellung zu beziehen. China hat schon von Russland Solidarität gefordert, und die Amerikaner fordern in vielen Fragen gegenüber China die Gefolgschaft der Europäer ein. Unter diesem Druck können Russland und Deutschland sehen, wenn sie auf aufeinander schauen, dass sie in vielen Bereichen überschneidende Interessen haben. Vor allem sollen sie dazu stehen, dass sie eigenständige Spieler sind und dieser veralteten Großmachtlogik – wir sind entweder im chinesischen oder amerikanischen „Lager“ – ausweichen. Das halte ich für eine Chance, die russische und europäische Politiker wahrnehmen sollen. Die wirtschaftliche, aber auch die politische und strategische Zusammenarbeit kann so weiterentwickelt werden.

Das ist alles gut und schön, aber sind Sie nicht der Meinung, dass eine Annäherung zwischen der EU und Russland in der nahen Zukunft kaum zu erwarten ist, weil durch das Сoronavirus alle Länder geschwächt sind und kaum Kraft für die Intensivierung von politischen Prozessen haben?

Michael Thumann: Im Moment sind wir noch sehr von der Konfrontation aus dem Jahre 2014 beeinflusst: Geht es um eine Wiedervereinigung mit der Krim, wie das die Russen nennen oder um eine Annexion, wie es nach den Regeln des internationalen Völkerrechts heißt? Ich glaube aber, dass die neue amerikanisch-chinesische Rivalität unsere Zukunft bestimmen wird. Und in dieser Hinsicht werden Russland und die EU eine Chance zur Zusammenarbeit haben. Sehen Sie, Trump beendet einen Abrüstungsvertrag nach dem anderen, zum Beispiel den INF-Vertrag und jetzt will er den Open-Skies-Vertrag auch noch kündigen. Steht er noch zum New Start-Abkommen, das 2021 verlängert werden muss? Und hier gibt es ein wachsendes gemeinsames Interesse von Russen und Europäern, dass das gesamte System der Rüstungskontrolle nicht zerbricht.

Russland reagiert auf alles, was mit Amerika zu tun hat sehr dünnhäutig. Die USA waren schon immer „Significant Other“. Die letzten Unruhen zum Beispiel bestimmen beinahe die ganze russische Berichterstattung. Wie erklären Sie dieses Phänomen?

Michael Thumann: Es gibt eine generelle Amerika-Besessenheit der Weltmedien. Wir reiben uns alle an dieser Großmacht, die uns beschützt, bespitzelt oder niedergedrückt hat, je nach Land. Speziell in Russland erklärt sich diese Fixierung damit, dass es schon zur Zeit der Sowjetunion dieses Kräftemessen gab: An Amerika hat man sich gemessen und dem Land nachgeeifert. Man wollte ebenbürtig sein. Das ist schon fast ein Fluch, von dem Russland sich befreien sollte und sich sagen, die USA, das ist eigentlich eine ganz andere Liga, in der wir gar nicht spielen wollen. Und die augenblickliche Berichterstattung über die Unruhen in den USA hängt mit einem alten Reflex zusammen, dass man gern negative Entwicklungen zeigt und den Untergang von Amerika ins Schaufenster stellt und beschwört, um sich selbst moralisch aufzurichten. Diese Tendenz ist auch Deutschland nicht ganz fremd. Aber man unterlegt da der Illusion, dass die USA bald auseinanderbrechen oder anderweitig scheitern würden. Das glaube ich nicht. Das Land ist militärisch, wirtschaftlich und technologisch viel zu stark, um sich aus dem Kreis der führenden Mächte zu verabschieden.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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