Man blickt nicht mehr zum Westen auf

Ein Gespräch mit dem Publizisten und Geschichtsphilosophen Dr. Hauke Ritz

„Putin polarisiert“,– las man nach dem Fernsehinterview des russischen Präsidenten. Warum gibt es so viele Putin Hasser, aber auch  Putin Versteher in der deutschen Gesellschaft?

Ich glaube, dass die Eliten und ihre Vertreter in den Medien sich langfristig verkalkuliert haben. Man hatte gedacht, dass man durch eine konstant negative Berichterstattung über Russland die Mehrheit der Bevölkerung gegen dieses Land aufbringen könne. Doch das hat so nicht funktioniert. Es gibt zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen weithin wahrgenommenen Konflikt, der nicht etwa zwischen zwei Parteien innerhalb der Medien stattfindet, sondern der sich direkt zwischen den Medien und der Bevölkerung manifestiert. Die Medien stehen auf der einen Seite, indem sie ständig Russland angreifen, und ungefähr 50 Prozent der deutschen Bevölkerung stehen auf der anderen Seite, indem sie die Journalisten durch Kommentaren und Leserbriefen wissen lassen, was sie von der Russlandberichterstattung halten.

Warum ist das Thema Russland denn überhaupt so wichtig?

Weil das Bild der Deutschen von Russland heiß umkämpft ist. Das liegt daran, dass deutsch-russischen Beziehungen das Potential besitzen, die gesamte Weltordnung zu verändern. Käme es zu einer deutsch-russischen Freundschaft, so würde dies eine fundamentale Neuordnung des gesamten Systems der internationalen Beziehungen auslösen. Die USA wissen das und versuchen deshalb das Image Russlands im öffentlichen Bewusstsein der Deutschen so schlecht wie nur möglich zu machen. Da sie in den letzten 69 Jahren viele Netzwerke, Stiftungen und gemeinsame transatlantische Foren und Organisationen hier in Deutschland aufgebaut haben, verfügen sie über die Mittel hier Einfluss auf die Medienberichterstattung über Russland zu nehmen. Der Leipziger Medienwissenschaftler Uwe Krüger hat diese heute sehr mächtigen transatlantischen Netzwerke unter Journalisten in seinem Buch „Meinungsmacht“ dezidiert untersucht. Indem man alles tut, um Russland in den Medien negativ darzustellen, soll die deutsche Bevölkerung quasi davon abgehalten werden, die Möglichkeit und die Chancen einer deutsch-russischen Annährung zu erkennen. Je schlechter das Image Russlands in der deutschen Öffentlichkeit, desto mehr wird die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen sich verlangsamen und vielleicht sogar gänzlich zum Erliegen kommen.

Aber was hätten denn die USA zu befürchten, wenn es zu einer deutsch-russischen Annährung käme?

Nun, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das Zentrum der Weltwirtschaft sich im Atlantik befunden. Der Amerikanisch-Europäische Handel war in gewisser Weise die Drehscheibe des Welthandels. Würde es nun zu einer deutsch-russischen Annährung kommen, so würde in gewisser Weise Osteuropa zum neuen Zentrum des europäischen Kontinents werden. Es würde nicht lange dauern, bis auch China, Indien und Iran eine über Land führenden Handelsroute in dieses neue nun nach Osten hin orientierte Europa suchen und entwickeln würden. Die Chinesen haben diesbezüglich sogar schon Vorschläge unterbreitet. Das aber würde faktisch dazu führen, dass das Zentrum der Weltwirtschaft sich von dem atlantischen und pazifischen Ozean nach Eurasien verlagern würde. Eine seebasierte Ordnung, die seit langer Zeit dominant ist, würde allmählich durch eine landbasierte Ordnung abgelöst werden, wobei der Handel über See natürlich wichtig bliebe. Deswegen stemmen sich die Amerikaner mit Händen und Füßen gegen Annährungsversuche zwischen den großen eurasischen Mächten.

Wie erklären sie es sich, dass die Bevölkerung auf das eher abstrakte Thema Russland so intensiv reagiert?

Nun, vielleicht hat es mit der historischen Verbundenheit zwischen Deutschland und Russland zu tun. Historische Faktoren wirken oft im Verborgenen und tendieren dazu plötzlich und unvermutet wieder an die Oberfläche zu treten. Und es leben in Deutschland über 4 Millionen Russlanddeutsche. Obwohl sie nur 5 % der deutschen Bevölkerung bilden, haben sie Einfluss. Sie sprechen Russisch, sie kennen das Land. Und einige von Ihnen sind aktiv geworden, haben angefangen Leserbriefe und Kommentare zu schreiben oder haben einfach mit Ihren Nachbarn darüber gesprochen. Das ist sicherlich ein Faktor.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Erinnerung an den Ersten und insbesondere den Zweiten Weltkrieg. Deutschland und Russland sind in gewisser Weise durch Blut verbunden. Auch wenn die deutschen Medien diese historische Dimension der deutsch-russischen Beziehungen mutwillig ausklammern, so hat die Bevölkerung sie dennoch nicht vergessen.

Man muss aber wahrheitshalber sagen, dass die Verdrossenheit der Leser und Zuschauer über die Russlandberichterstattung zum Thema in den Medien gemacht wird.

Die Medien registrieren, dass es in der Gesellschaft ein neuer Trend entsteht. Natürlich versucht man ihn zunächst zu ignorieren. Aber irgendwann wird der Trend so stark, dass nicht nur der NSA und Google von ihm wissen, sondern die Menschen selbst ihn wahrnehmen. So kann ein solcher Trend schnell zu einer Mode werden. Und wenn die Entwicklung einer gesellschaftlichen Strömung an diesen Punkt angekommen ist, dann können die Medien sie nicht länger ignorieren. Sie müssen sich dann auf sie beziehen, um ihn auf diese Weise in die richtigen Bahnen zu lenken. Ich bezweifle aber, dass ihnen das im Falle der Kritik an der Russlandberichterstattung gelingen wird.

Der russische Außenminister Lawrow hat gesagt, der Westen will mit seiner Politik der Sanktionen den Regimesturz in Russland erreichen.

Man sollte hier genauer differenzieren. Die Wissenschaftler, Experten und Think Tanks, die in den USA für die große langfristige Strategie zuständig sind, die wollen das. Und Henry Kissinger selbst hat im Frühjahr im US-amerikanischen Fernsehen angedeutet, dass die Vorgänge auf dem Maidan von den USA als ein mögliches Vorspiel für einen geplanten Regimechange in Moskau angesehen werden.

Ob unsere Politiker das wollen, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Ist der Westen so naiv und denkt, nach Putin kommt ein liberaler prowestlicher Präsident an die Macht?

Ein Teil der amerikanischen Elite ist wahrscheinlich wirklich so naiv, dass sie das denken, obwohl die Experten es eigentlich besser wissen müssten. Aber man darf nicht vergessen, dass man hier im Westen seit 1989 in einer ständig stärker werdenden Stimmung des Triumphalismus lebt. Wir denken wir hätten den Kalten Krieg gewonnen, obwohl er von sowjetischer Seite freiwillig beendet wurde. Wir denken, dass nun die ganze Welt so werden müsste wie wir. Wenn man in so einer Kultur lebt, verliert man die Fähigkeit andere Kulturen zu verstehen. Und so glaubt man dann tatsächlich, dass nach Putin endlich der langersehnte prowestliche Präsident kommen wird.  Und man will Putin vielleicht auch einfach deshalb loswerden, weil er es schafft, die verschiedenen Gruppen der russischen Gesellschaft anzusprechen. Er kann die Menschen mit kommunistischen Überzeugungen anzusprechen, er hat die Fähigkeit die Konservativen anzusprechen und er ist von den Liberalen umgeben, die hoffen, ihre Politik mit Putin durchsetzen zu können. Das heißt, er verbindet die verschiedenen politischen Lager miteinander. Und wer immer nach Putin käme, wäre wahrscheinlich keine Integrationsfigur. Wenn jetzt jemand an die Macht kommt, der z.B. nur die Konservativen oder nur die Sozialisten anspricht, dann hätte man ein geschwächtes Russland mit einem Präsidenten, der nur 40 Prozent der Bevölkerung hinter sich hätte.

Man hat letzte Zeit das Gefühl, dass Russland auf internationaler Ebene in gewisse Einsamkeit abdriftet.    

Eine dauerhafte langfristige Isolierung Russlands wird es nicht geben. Solche Länder wie China, Indien, Brasilien und viele andere Schwellenländer haben selbst ihre Erfahrungen mit dem Triumphalismus des Westens gemacht. Sie wissen ganz genau, dass wenn Russland noch einmal so schwach werden würde, wie in den 90er Jahren, dass auch sie dann unter noch stärkeren Druck von Seiten der USA und EU kommen würden. Deswegen haben sie ein Interesse daran, dass Russland auch weiterhin die USA bis zu einem gewissen Grade eindämmen kann und werden deshalb das Land auch unterstützen.

Aber das Bündnis mit China ist zwar taktisch gut, strategisch aber für Russland gefährlich. Der chinesische Tiger kann Russland auffressen. Darüber schrieb auch Scholl-Latour in seinem Buch „Russland im Zangengriff“.

Russland hat sich nach 1989 absolut auf Europa ausgerichtet. Wenn Russland jetzt Gas auch nach China liefert, führt es im Grunde genommen nur zu einem gesunden Ausgleich. Denn für so ein großes Land wie Russland ist es wichtig in beide Richtungen Handel zu treiben. Russland muss zudem seine östlichen Gebiete entwickeln. Und das geht nur durch ein Wachstum des asiatischen Handels. China widerum wird derzeit von den USA über deren Stützpunkte in Japan, Südkorea, Taiwan, Philippinen Thailand und sogar Vietnam eingekreist. Die chinesische Strategie ist zu verhindern, dass Russland sich dem Westen zu stark annähert. Denn wäre auch Russland ein prowestliches Land und dann wäre es sehr leicht die Einkreisung Chinas abzuschließen. Die Chinesen wissen um diese Gefahr und versuchen deshalb Russland so weit wie möglich auf ihre Seite zu ziehen. Die Chinesen brauchen die Russen so wie die Russen jetzt die Chinesen brauchen.

Durch diese Umorientierung sendet Russland den Europäern eine unmissverständliche Botschaft. Das Gas, das Öl, die Erze, die bisher für euch reserviert waren, die können wir auch nach China verkaufen. Dadurch stärkt Russland in Europa die Wirtschaftskreise, die den Handel mit Russland nicht verlieren wollen. Das könnte wiederum zu einer neuen Ostpolitik in Europa führen. Und wenn das durch die ohnehin notwendige Annährung an China gelingt, wäre das für Russland ein großer politischer Erfolg.

Sie erwähnten gerade ihre jüngste Reise nach Russland. Wie haben Sie die Stimmung im Land erlebt?

Was ich wahrgenommen habe ist, dass man nicht mehr zum Westen aufblickt, wie es noch Anfang der 2000 Jahre der Fall war. Diese Bewunderung ist nicht mehr da. Man hat Abstand davon genommen, den Westen einfach zu kopieren. Stattdessen gewinnt man den Eindruck, dass die Mehrheit der Russen möchte, dass Russland einen eigenen Weg geht. Zwar ist sich ein Teil der russischen Gesellschaft nicht sicher, ob Russland die Ressourcen hat, einen direkten Konkurrenzkampf mit dem Westen wirklich aufnehmen zu können. Sie blicken tendenziell pessimistisch in die Zukunft. Doch diesem Teil der Gesellschaft steht wiederum ein anderer  gegenüber, der daran glaubt, dass Russland in Zusammenarbeit mit Lateinamerika und einigen asiatischen Staaten durchaus im Stande ist, ein Gegenmodell zum westlichen Modell zu entwerfen.

Für viele Russen erscheint der von Gorbatschow, über Jelzin, Putin und Medwedew betriebene Versuch der russischen Außenpolitik, mit dem Westen einen gemeinsamen Boden zu finden, als gescheitert. Der Westen ist dabei nicht nur die russische Regierung, sondern den größten Teil der russischen Bevölkerung zu verlieren.

Das Interview führte Dr. Daria Boll-Palievskaya für russland.RU

Hauke Ritz, Jahrgang 1975, ist Autor u.a. mehrerer Essays in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ und veröffentlichte zuletzt das Buch „Der Kampf um die Deutung der Neuzeit. Die geschichtsphilosophische Diskussion in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zum Mauerfall“
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