«Kultur der Straflosigkeit“ – russischer Politologe über die Situation nach den Präsidentschaftswahlen in BelarusAndrei Susdaltsew

«Kultur der Straflosigkeit“ – russischer Politologe über die Situation nach den Präsidentschaftswahlen in Belarus

Andrei Susdaltsew, russischer Politikwissenschaftler, stellvertretender Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik an der Higher School of Economics

Herr Susdaltsew, die offiziellen Zahlen sind eindeutig: Lukaschenko hat mehr als 80 Prozent der Stimmen, seine Herausforderin Swetlana Tichanowskaja keine zehn Prozent.  Die Opposition erkennt die Ergebnisse nicht an. Aber kann man in unserem technologischen Zeitalter dermaßen mit Zahlen spielen?

Andrei Susdaltsew: Lukaschenko ist an seine absolute Straflosigkeit gewöhnt. Er ist sich völlig sicher, dass er damit durchkommt. Allein das Beispiel mit 33 russischen Bürgern, die zu seinen regelrechten Geiseln wurden, spricht Bände. Er willigte gnädig ein, sie Russland zu übergeben, tat dies aber doch nicht. Doch nachts gingen die Menschen auf die Straßen, um die Wähler zu suchen, die angeblich für Lukaschenko gestimmt hatten. Immerhin sind fast 81 Prozent die überwiegende Mehrheit, also fast alle. Aber wo sind sie? Wo sind diese Menschen? Keiner von ihnen ist in der gesamten Republik auf die Straße gegangen. Es wird also nach ihnen gesucht.

Wie beurteilen Sie allgemein die Situation nach den Wahlen? Am Wahltag gingen Menschen auf die Straßen, fast drei Tausend sind überall auf dem Land festgenommen worden. Die Miliz benutzte Wasserwerfer und Betäubungsgranaten gegen die Demonstranten. Es gab Verletzte. Und es gab die ersten Streiks. Was wird als Nächstes passieren?

Andrei Susdaltsew: Das waren nur einige Werkhallen, aber bei einem für Belarus sehr wichtigen Metallwerk BMZ. Den Menschen wurde mit Verhaftungen und Entlassungen gedroht, aber sie gaben nicht auf. Ich sehe die ganze Situation als kritisch an. Lukaschenko erhielt die Unterstützung Moskaus, die vorhersehbar war, gerade weil russische Bürger als Geiseln gehalten werden. Außerdem führt er sein gewohntes Spiel fort, indem er viel verspricht. Aber er wird, wie immer, keines seiner Versprechen erfüllen. Auch 1996 bat er um Unterstützung und Hilfe aus Russland, dann 2010. Im Allgemeinen ist die Lage schwierig, und ich mache mir große Sorgen was die Position Russlands angeht. Denn die Erpressung durch Lukaschenko wird weitergehen.

Swetlana Tichanowskaja, gab bekannt, dass sie sich als Gewinnerin betrachtet. Die Opposition weigert sich, die Wahlergebnisse anzuerkennen und erklärte, sie seien bereit für weitere Proteste und forderte eine friedliche Machtübertragung. Tichanowskaja sagte weiter, sie hat nicht vor, das Land zu verlassen. Ihre Kollegin, Politologin Ekaterina Schulmann, nannte die Wahlergebnisse „Einladung zum Krieg“.

Andrei Susdaltsew: Dies ist natürlich sehr plakativ gesagt. Ich glaube jedoch nicht, dass es dazu kommt. Die Weißrussen haben Angst vor einem Bürgerkrieg. Außerdem können sie sich nicht organisieren. Tichanowskaja will sich nicht an der Protestbewegung beteiligen. Den Weißrussen fehlt also ein mächtiger Oppositionsleader. Lukaschenko sperrt seine Gegner normalerweise nach den Präsidentschaftswahlen ein, diesmal tat er dies teilweise während der Wahlen. Swetlana Tichanowskajas Ehemann sitzt im Gefängnis. Es gibt also keinen einzigen Anführer und Russland hat die Wahlergebnisse anerkannt. Ich befürchte also, dass die Proteste etwa eine Woche dauern und dann langsam aufhören werden, wenn die Sicherheitskräfte nicht auf die Seite der Demonstranten wechseln. Aber dann kann der Sabotageprozess beginnen. Und das ist sehr gefährlich.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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