Kürzlich erschienen: Herausragende TV-Serie über die Katastrophe von Tschernobyl

Im Angesicht des Todes verkommt die Aussicht auf ebendiesen zur leeren Drohung: „Wenn Sie über den Reaktor fliegen, lassen Sie sich morgen freiwillig erschießen!“, lautet die Ankündigung an den Hubschrauberpiloten, welcher unter Androhung standrechtlicher Erschießung den havarieren Block IV von Tschernobyl überfliegen soll, damit sich Boris Schtscherbina, seines Zeichens  stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR, ein genaues Bild des GAUs machen kann. Schließlich wird abgedreht, die Kraft des Arguments in Gestalt des Atomphysikers Waleri Legassow hat über die vermeintliche Autorität des Apparatschiks gesiegt.

Dieser Showdown ist eine der prägnantesten Szenen der grandiosen HBO-Miniserie Chernobyl, welche in fünf Folgen mit insgesamt 330 Minuten Laufzeit die Ereignisse rund um die schwerste von Menschenhand verursachte Katastrophe der Geschichte rekonstruiert. Detailliert gestaltete Sets und aufwändige Computeranimationen schaffen eine ausgesprochen beklemmende Atmosphäre und katapultieren den Zuschauer zurück in die Sowjetunion des Jahres 1986 – allein der rauchende Reaktor ist eine Attraktion für sich. Fragwürdiger Nebeneffekt der Serie: Seit der Veröffentlichung haben die Reisen von Katastrophentouristen in die Sperrzone deutlich zugenommen. Wäre dies nicht schon verachtungswürdig genug, so befinden sich unter jenen Leuten auch noch diverse „Influencer“ aus den sozialen Netzwerken, welche den Ort ohne die geringste Kenntnis der historischen Ereignisse und dem damit verbundenen Leid für ihre hirnlose Sucht nach Aufmerksamkeit missbrauchen.

Legassow und Schtscherbina, exzellent gespielt von Jared Harris und Stellan Skarsgard, stehen im Mittelpunkt der mitreißend erzählten Handlung, deren Ausgangspunkt ein Sicherheitstest vom 26. April 1986 im bereits erwähnten Block IV des Kernkraftwerks Tschernobyl ist. Eines morgens wird Legassow unsanft auf dem Schlaf geklingelt, er habe umgehend im Kreml zu erscheinen. Erst ein Jahr zuvor war Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU geworden, nun muss er eine Katastrophe bewältigen, welcher er einen entscheidenden Anteil am Ende der Sowjetunion zuschreibt. Er ernennt Schtscherbina zum Leiter der Regierungskommission für Tschernobyl, der fachkundige Legassow soll ihn begleiten. Anfangs ist das Verhältnis der beiden Männer durchaus angespannt, doch mit der Zeit geraten sie zu freundschaftlich verbundenen Helden der Erzählung, welche sich mit inkompetenten Parteifunktionären herumschlagen müssen. Für sein Interesse an der Wahrheit bezahlt Legassow schließlich mit der Vernichtung seiner bürgerlichen und wissenschaftlichen Existenz.

Die Messgeräte der Männer im Kraftwerk können lediglich 3,6 Röntgen erfassen – eine Dosis, welche 400 Röntgenaufnahmen entspricht. Obgleich alles andere als harmlos, muss die Strahlung am Reaktor viel höher sein, sind doch die Feuerwehrleute in der Unglücksnacht nach kurzer Zeit  zusammengebrochen. Ein Hochdosis-Dosimeter wird von einem todesmutigen Soldaten an das havarierte Kraftwerk herangefahren und bringt die Bestätigung, dass der Reaktorkern frei liegt und mit 2000 Grad brennt: 15.000 Röntgen. Legassow doziert: „Die doppelte Menge der Hiroshima-Bombe – pro Stunde. 48 Mal Hiroshima, jeden Tag“. Er schließt so zutreffend wie apokalyptisch: „So etwas hat es in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben“. Nun geht es darum, das Feuer zu löschen und den Reaktor zu schließen. Aufräumroboter versagen, ihre Schaltkreise werden von der enormen Gammastrahlung umgehend gegrillt. Im Politbüro wird der Einsatz von Hunderttausenden Liquidatoren beschlossen, Legassow schätzt die Zahl der zu erwartenden Toten auf „Tausende, vielleicht Zehntausende“. Gorbatschow gibt der Aktion seinen Segen: „Es hat noch keinen Sieg ohne Opfer gegeben“.

Ausführlich gezeigt werden außerdem die gravierenden Fehler der Bedienmannschaft rund um den grenzdebilen Schichtleiter Djatlow, welcher die Explosion des Reaktors auch nach Stunden nicht wahrhaben wollte. Doch auch Konstruktionsmängel des kommunistischen Schrottreaktors trugen maßgeblich zur Katastrophe bei, welche Legassow während einer gerichtlichen Anhörung offenlegt. Selbstredend, dass dies von der Staatsführung nicht geduldet wurde, marschierte die Sowjetunion nach eigenem Verständnis doch stets an der Spitze des Fortschritts. Dabei ging es nicht nur um technischen Fortschritt wie etwa den Fortschritt auf dem Gebiet der Zahnmedizin, der Raumfahrt oder der Nukleartechnik, sondern darum, dass sich die gesamte Menschheit wie ein monolithischer Block auf ein Ziel zubewegt. Ein solches Fortschrittsverständnis funktioniert stets nur im Rahmen einer Totalität, welche im 21. Jahrhundert nicht zuletzt aufgrund einer derart brillanten Gesellschaftsanalyse wie der Systemtheorie von vorne bis hinten desavouiert sein sollte. Natürlich lässt sich von zivilisatorischem Fortschritt sprechen – etwa, dass man heute nicht mehr am Galgen landet, wenn man sagt, dass die Erde eine Kugel ist. Ein weiteres gutes Beispiel eines solchen nichttotalitären Fortschritts ist, dass ein vom totalitären Fortschrittsglauben geleiteter Staat wie die Sowjetunion heute nicht mehr existiert.

Die Macher von Chernobyl vermeiden gängige Klischees bei der Darstellung der Sowjetunion, etwa sprechen die Schauspieler Englisch ohne albernen russischen Akzent. Einzig die etwas arg voyeuristische Ausschlachtung der Themen Radioaktivität und Strahlung bietet Anlass für negative Kritik. Während eines Spaziergangs berichtet Legassow Schtscherbina von den verheerenden Auswirkungen ionisierender Strahlung auf den menschlichen Körper – selbstredend, dass dem Zuschauer entsprechende Bilder aus einer Moskauer Spezialklinik nicht vorenthalten werden. Hier geht es etwas zu offensichtlich um Effekthascherei, wenn über quälend lange Minuten dem Zuschauer schwerstverstrahlte Menschen gezeigt werden, die man aus Gründen der Humanität besser gleich vor Ort in Tschernobyl erschossen hätte. Man hätte ihnen erspart, bei lebendigem Leib zu verrotten. Doch derlei Kleinigkeiten schmälern den überaus positiven Gesamteindruck der Serie nicht. Die bereits erwähnte Klischeefreiheit verbindet sich mit einer nüchternen und entsprechend werturteilsfrei-distanzierten Präsentation der Ereignisse, welche es dem Zuschauer erlaubt, ein eigenes Urteil zu fällen. Wahrlich keine Selbstverständlichkeit in Zeiten von Gesinnungsjournalismus und betreutem Denken.

So überrascht es dann auch nicht, dass selbst eine derart sachliche Darstellung vor billiger Instrumentalisierung nicht gefeit ist – Zitat aus dem nicht nur im Zweifel linken SPIEGEL: „Die Verengung des historischen Ereignisses auf den Kampf zwischen ignoranter Regierung und warnender Wissenschaft ergibt durchaus Sinn. Es geht Autor Craig Mazin wohl weniger um eine akkurate Rekonstruktion des historischen Ereignisses (die verhindert schon die Besetzung mit überwiegend britischen Darstellern) als um dessen Indienstnahme für gegenwärtige Debatten“. Nicht mal bei einer Serie über einen mehr als 30 Jahre zurückliegenden Unfall im Zusammenhang mit der in Deutschland überaus umweltfreundlichen (weil dort unfallfreien) Atomkraft ist man vor der aktuellen Klimahysterie sicher. Durchaus möglich, dass es bei den Redaktionskonferenzen der Moralapostel von der Ericusspitze in etwa so zugeht wie bei den in Chernobyl gezeigten Sitzungen des Politbüros. Einziger Unterschied: An der Wand hängt nicht der rauschebärtige Mann aus Trier, welcher mit seinem Geschwätz von historischen Notwendigkeiten die Grundlage für den Tod von 100 Millionen Menschen gelegt hat, sondern ein mit biologisch abbaubaren Farben gemaltes Porträt jener mutmaßlich von gewieften PR-Strategen aus der Taufe gehobenen Klimaprophetin schwedischer Provenienz, welche mit ihren zwei drolligen Zöpfen aktuell für die kollektive Verblödung ganzer Bevölkerungsschichten sorgt.

Die Serie Chernobyl ist in Deutschland abrufbar über den Online-Streaminganbieter Sky Ticket.

[Julian Müller/russland.news]

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