„Künstliche Schönheit ist in Russland immer noch gefragt“: Modehistoriker und Trendsetter Alexandre VassilievAlexandre Vassiliev © russland.news

„Künstliche Schönheit ist in Russland immer noch gefragt“: Modehistoriker und Trendsetter Alexandre Vassiliev

In Russland gilt Alexandre Vassiliev als „Modezar“. russland.NEWS sprach mit dem berühmten Fernsehmoderator, Modehistoriker, Theaterkünstler, Sammler, Buchautor und Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Künste über russische Mode und die Beziehung zwischen Mann und Frau in Russland.

Alexandre, wie würden Sie meinen Look bewerten?

Alexandre Vassiliev: Eine solide Neun auf einer Zehn-Punkte-Skala.

Da hätte ich also gute Chancen in Ihrer TV-Show „Modisches Urteil“, in der Sie das Aussehen Ihrer Heldinnen ändern. Übrigens dieses Format ist ein rein russisches Projekt und nur in Russland möglich. Denn dort bringen Ehemänner oder Freunde ihre Frauen mit und warten darauf, dass die Moderatoren aus ihnen eine Schönheit machen.

Alexandre Vassiliev: Sie irren sich. In Frankreich, in den USA, in England und in anderen Ländern gibt es das gleiche TV-Projekt, das „Relooking“ heißt. Dort ziehen sich Frauen vollständig aus, sie werden durch den Kakao gezogen und verspottet. Unser Programm läuft seit zwölf Jahren und ist viel menschlicher. Alle Frauen dürfen Outfits, die sie anprobiert haben, mitnehmen.

Aber in „Modischem Urteil“ dreht sich alles darum, dass einer Frau erklärt wird, wie sie auszusehen hat, um einem Mann zu gefallen. Glauben Sie nicht, dass auch in Russland die Zeit gekommen ist, dass eine Frau sagt: Ich sehe aus, wie ich will, und niemand schreibt mir etwas vor.

Alexandre Vassiliev: In Russland ist das Mann-Frau-Verhältnis völlig anders als in Westeuropa. Und das ist nicht nur eine Frage der Tradition. Wir haben fast zehn Millionen weniger Männer als Frauen. Aus diesem Grund legen Frauen einen großen Wert auf ihr Äußeres und versuchen zu gefallen. In meinem letzten Interview mit Jean-Paul Gaultier sagte er, er sei schockiert, wie ungepflegt russische Männer aussehen. Das liegt auch daran, dass sie zu sehr gefragt sind. Ob er rasiert ist oder nicht, die Frau ist froh, einen Mann zu nehmen und glaubt, dass sie ihn adeln kann. Dies ist wirklich ein besonderes Phänomen in Russland. Ein Genetiker hat mir das so erklärt, ich weiß nicht, ob es stimmt: Die männlichen Chromosomen in Russland sind schwer beschädigt. Nehmen wir unsere Geschichte: die Oktoberrevolution, der Bürgerkrieg, der Erste und Zweite Weltkrieg, die stalinistischen Säuberungen und der sogenannte Brain Drain in den 90er Jahren – all dies betraf hauptsächlich Männer. Und die weiblichen Chromosomen sind viel besser erhalten, weil die Bolschewiki keine Massenexekutionen von Aristokratinnen durchgeführt haben. Diese konnten sich an neue Bedingungen anpassen. Sie versteckten ihre Herkunft und wurden zu Lehrerinnen oder sogar Fabrikarbeiterinnen, behielten aber ihre Manieren und ihre Ausbildung bei.

Doch halsbrechende High Heels, Miniröcke und übertriebenes Makeup gehören der Vergangenheit an.

Alexandre Vassiliev: Nein, künstliche Schönheit ist in Russland immer noch gefragt. Gleichzeitig scheint es mir, dass unsere Männer eine vulgäre Vorstellung von Frauen haben. Wenn wir Männer, die zu uns kommen, fragen, wie Ihre Frau aussehen soll, beschreiben sie das perfekte Outfit: ein Mini-Leopardenkleid mit Spitze, Netzstrümpfe und Kniestiefel aus rotem Lackleder. Es ist eine Show von Dolce & Gabbana, inspiriert von einem gewissen Bahnhof-Porno-Chic. Das heißt, ein Mann vergleicht seine Frau mit einer Prostituierten. Haarverlängerung, künstliche Wimpern und Nägel, all das hat Hochkonjunktur. Alle Kassiererinnen tragen aufgeklebte Wimpern. Ich fragte eine warum. „Was kann ich meinem potenziellen Mann zeigen? Ich sitze den ganzen Tag an der Kasse, ein Mann kann weder meine Taille noch meine Beine sehen. Also bleiben nur die Augen übrig“, sagte sie. Dies ist eine Art Falle. Viele Frauen betrachten einen Mann als eine Art sozialen Aufzug.

Hier sehe ich aber einen Widerspruch: Warum brauchen Frauen einen sozialen Aufzug, wenn Russland den höchsten Prozentsatz weiblicher Manager weltweit hat.

Alexandre Vassiliev: Ja, es gibt Mädchen, die an ihre Stärken und eigenes Potenzial glauben und bereit sind, ohne Mann durchzukommen. Sie brauchen keinen Mann und kaufen stattdessen eine Katze. Übrigens die Bewegung der freien Liebe zwischen Frauen hat in Russland den Kopf erhoben. Es ist kein Tabu mehr. Grund? Ein Männermangel. Interessanterweise erschreckt die lesbische Liebe Männer nicht. Aber Gott bewahre, wenn sich ein Mann in einen Mann verliebt.

Warum machen Sie Ihre Show nur mit Frauen?

Alexandre Vassiliev: Einmal im Monat laden wir einen Mann in unsere Sendung ein. Diese Ausgabe hat die niedrigsten Zuschauerquoten. In Russland gibt es ein Sprichwort: „Ein gutaussehender Mann wird nie dir alleine gehören.“ Der Männermangel ist so stark, dass solange ein Mann unrasiert, in einem schäbigen T-Shirt und verschwitzt ist, denkt die Frau, ihn alleine zu besitzen. „Das ist meine Immobilie“, sagt sie. Aber sobald er in Ordnung gebracht wird, wirkt er wie ein durchschnittlicher Europäer. Dafür gibt es aber keine soziale Nachfrage. Ich kann Ihnen natürlich keine genaue soziale Analyse aller Gesellschaftsschichten anbieten, das ist nur meine persönliche Beobachtung. 

Erzählen Sie uns über die neusten Trends in der russischen Mode. Was muss eine russische Modeliebhaberin unbedingt ihr Eigen nennen?

Alexandre Vassiliev: Das ist ganz simpel – eine Wohnung in Moskau, ein eigenes Auto, einen Freund, einen obligatorischen Pelzmantel, das neueste Handy, teures Parfum, unbedingt gepflegte Haare und Hände, wenn möglich einen Diamantring mit einem Karat und genug Kleingeld in der Designer-Tasche, um in schicken Clubs auszugehen.  

Aber was ist mit dem Trend zur Natürlichkeit?

Alexandre Vassiliev: Meiner Meinung nach ist dies in Russland noch kein Trend. In Deutschland ziehen sich Frauen bequem an. In Russland kauft eine Frau Stiefel, damit alle vor Neid umfallen. In Deutschland ist mir aufgefallen, dass es unter Männern eine starke Konkurrenz gibt. Meiner Meinung nach versuchen sie mehr gut auszusehen als Frauen.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

 

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