„Kühler Krieg“: russischer Politologe über russisch-europäische BeziehungenGevorg Mirzayan © russland.NEWS

„Kühler Krieg“: russischer Politologe über russisch-europäische Beziehungen

Gevorg Mirzayan, außerordentlicher Professor der Finanzuniversität und gern gesehener Gast bei politischen Talk Shows in Russland sprach mit russland.NEWS über das Verhältnis zwischen Russland und der EU.

Gevorg, den Begriff „kalter Krieg“ gibt es schon lange. Manche sprechen heute von einem neuen kalten Krieg. Sie haben den Begriff „kühler Krieg“ eingeführt. Wie meinen Sie das?

Was ist ein kalter Krieg? Es handelt sich um einen totalen, vollumfänglichen, harten Wettbewerb in allen Bereichen außer der direkten militärischen Konfrontation. Und nur das Vorhandensein von Atomwaffen verhinderte, dass der Kalte Krieg zu einem heißen Krieg wurde. Deshalb ließen die USA und die Sowjetunion „Dampf“ ab, indem sie sich an der Peripherie gegenseitig bekämpften, wie zum Beispiel in Afghanistan. „Kühler Krieg“ ist ein Surrogat für den Kalten Krieg. Das heißt, es gibt zwar Konflikte, aber es ist keine totale Konfrontation. Russland versucht nicht, seine Werte über seine Grenzen hinaus zu verbreiten, in der Wirtschaft haben wir das westliche System übernommen, und wir sehen auch keine Konfrontationen in der Peripherie.

Aber wenn die Beziehungen zwischen Russland und „dem Westen“ nur „lauwarm“ oder „kühl“ sind, warum hat dann Außenminister Sergei Lawrow gesagt, dass Russland zu einem vollständigen Bruch mit der EU bereit ist?

Lawrow sagte, wir werden die Beziehungen abbrechen, „wenn“. Auf das „wenn“ folgt eine Liste von Bedingungen, die allen Seiten Spielraum lässt. Aber man kann Moskau gut verstehen. Die jüngsten Sanktionen sind einfach nur ärgerlich. Früher war bei Sanktionen alles klar: Sie wurden aus einem bestimmten Grund eingeführt, und es wurden realistische Bedingungen dafür festgelegt, was getan werden musste, damit sie aufgehoben werden konnten. Obwohl ich nicht verstehe, warum Sanktionen wegen der Krim verhängt wurden, denn es sollte jedem Kind in Deutschland klar sein, dass die Krim nur aufgegeben werden kann, wenn Russland zusammenbricht. Und der Zusammenbruch Russlands hätte auch für die gesamte EU so katastrophale Folgen, dass man besser gar nicht erst daran denken sollte. Die Verhängung von Sanktionen wegen der Krim ist also so, als würde man mit einer Bazooka auf die Wand schießen, an der eine Fliege sitzt. Sie werden die Fliege töten, aber Sie werden auch das Haus in die Luft jagen. Jetzt werden Sanktionen um der Sanktionen willen verhängt. Kiew hält sich nicht an die Minsker Vereinbarungen, die Sanktionen bekommt dagegen Moskau. Und die Vorwürfe der Einmischung in die US-Wahl? Das ist doch lächerlich. So werden die Sanktionen zu einer echten Erpressung.

Gut, aber wie ist es möglich, die Beziehungen zur EU abzubrechen? Das ist doch eine unrealistische Vorstellung.

Abgesehen von Nord Stream 2 haben wir keine großen gemeinsamen Projekte mit der EU. Warum können wir uns mit der Europäischen Kommission auf nichts einigen? Weil es zwei völlig unterschiedliche Ansätze gibt. Bei uns herrscht Pragmatismus, in der EU ist es eine Frage der Werte. Es ist also schwierig, hier eine gemeinsame Sprache zu finden. Wenn wir uns also nicht einigen können, dann ist es vielleicht besser, gar nicht zu reden. Es ist besser, eine Auszeit zu nehmen, den Dialog zu begraben, Luft holen und dann darauf zurückzukommen. Und die bilateralen Beziehungen können dabei weitergeführt werden, zum Beispiel mit Deutschland, Ungarn oder Italien.

Während des Besuchs von EU-Kommissar für Außenbeziehungen Josep Borrell in Moskau hat Russland mehrere europäische Diplomaten ausgewiesen. In jedem Fall war dies eine klare Ohrfeige für Borrell und die gesamte EU.

Herr Borrell ist ohne Vollmacht nach Russland gekommen, deswegen hat er sich nicht einmal mit Wladimir Putin getroffen. Als erstes traf er sich mit Vertretern der Zivilgesellschaft, was vollkommen in Ordnung ist. Er erklärte aber nach dieser Zusammenkunft, dass die EU der Hauptsponsor für zivilgesellschaftliche Projekte in Russland sein wird. Dies wurde im Kreml als Tatsache aufgefasst, dass Europa die russische Opposition finanzieren will.

Muss Russland mit weiteren harten Sanktionen rechnen? Oder sind der EU die Werkzeuge ausgegangen?

Es wird zu persönlichen Sanktionen kommen. Sanktionen um der Sanktionen willen, weil Europa sie einfach nicht aufheben kann, obwohl jeder versteht, dass Sanktionen nicht funktionieren. Sie sind völlig sinnlos. Aber wenn die EU sie aufgibt, wird sich die Frage stellen: Warum haben Sie so viele Jahre lang die wirtschaftlichen Beziehungen zerstört, während das „Putin-Regime“ immer noch nicht zerstört wurde? Aber persönliche Sanktionen sind besser als wirtschaftliche Sanktionen. Wenn nur Staatsbeamte, die Kapitalanlagen und Immobilien im Westen besitzen, bestraft werden, dann habe ich eine vage Vermutung, dass die gesamte russische Bevölkerung für solche Aktionen stimmen wird.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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