Korrekturbedürftiges Russlandbild

[von Bernd Murawski] Bereits seit der Zarenzeit wird Russland in unterschiedlichen Varianten vorgeworfen, die Freiheit und den Wohlstand des Westens zu bedrohen. Der Abbau derartiger Ängste erfordert ein tieferes Verständnis für die kulturellen und sozio-ökonomischen Eigentümlichkeiten des Landes.   

Unter dem Titel ”Russland – Weltmacht im Wartestand” erschien am vorletzten Sonntag auf dieser Webseite ein Artikel von Kai Ehlers, der bereits vor zehn Jahren zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Trotz dieser Zeitdifferenz hat der Beitrag kaum an Aktualität eingebüßt. Der Text enthält bemerkenswerte Fakten und Interpretationen, die einen tiefen Einblick in die Besonderheiten der russische Gesellschaft und Politik gewähren. Aus der recht umfangreichen Analyse lassen sich die folgenden zentralen Thesen herausfiltern:

  1. Russland ist als einziger Staat der Erde faktisch autark, was nicht nur den natürlichen Ressourcen, sondern auch sozio-ökonomischen und kulturellen Eigenheiten geschuldet ist. Deren charakteristische Züge sind ein ausgeprägter Gemeinschaftsgeist, Genügsamkeit und die Fähigkeit zur kollektiven Selbstversorgung. Diese trugen wesentlich dazu bei, dass das Land während seiner Geschichte feindlichen Angriffen erfolgreich widerstehen konnte. Kein anderer Staat verfügt gegenwärtig über vergleichbare Kapazitäten, dem unipolaren Anspruch der USA die Stirn zu bieten.
  2. Während Gemeinschaftseigentum im westlichen Kulturkreis der privaten Eigentumsordnung gewichen ist, hat es in Russland bis heute überlebt, wenn auch dessen Gestalt und Ausprägung sich mehrfach veränderten. Im Rahmen autarker sozio-ökonomischer Mikrostrukturen realisiert sich ein hohes Maß an individueller und kollektiver Selbstbestimmung. Diese zu gewährleisten und geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, wird als eine der Hauptaufgaben gesamtgesellschaftlicher Organisation begriffen. Strukturen und Ausübung staatlicher Macht werden mehr an diesem Auftrag gemessen als an ihrem formaldemokratischen Gehalt.
  3. Gesellschaftliche Erneuerungen vollziehen sich häufig nicht im Rahmen eines kontinuierlichen Prozesses, sondern durch das gewaltsame Entladen eines gewachsenen Reformstaus. Dabei lassen sich folgende Etappen unterscheiden: „Phase eins: Zusammenbruch nach langer Stabilität, bzw. Stagnation. Phase zwei: Eintritt einer verwirrten Zeit, russisch: Smuta, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses dieser Schicht unter Hinzunahme von einzelnen Elementen der europäischen/westlichen Wirtschafts- und Lebensweise auf neuem technisch-zivilisatorischen Niveau.“

Kai Ehlers kritisiert eine westliche Wahrnehmung, die sich darauf beschränkt, marktwirtschaftliche und Demokratiedefizite Russlands zu konstatieren und daraus einen Nachholbedarf abzuleiten. Er steht damit in der Tradition von Kritikern einer eurozentrischen Sichtweise, als deren bedeutender Vertreter Frantz Fanon während der Entkolonialisierungsphase der 50er und 60er Jahre sowohl das kapitalistische als auch sozialistische Bild von der „Dritten Welt“ zurückwies. Diese Erkenntnis hatte später einen maßgeblichen Einfluss auf die Studentenbewegung, sie geriet aber im Zuge der neoliberalen Wende in den Hintergrund.

Dass die von Karl Marx als „asiatischen Produktionsweise“ titulierte Gesellschaftsform in der Lage ist, eine ähnliche wirtschaftliche Dynamik zu entfalten wie der kapitalistische Individualismus des Westens, wird gegenwärtig von mehreren Ländern vor allem des eurasischen Raums eindrucksvoll belegt. Zwar fungiert das westliche Gesellschaftsmodell bislang als Schrittmacher in Sachen Wissenschaft, Produktivitätssteigerung, Menschenrechte und Umweltschutz. Doch zeigen sich autokratische Systeme nicht nur in der Lage, diese Errungenschaften zu adaptieren. Vielfach gelingt es ihnen, sie konsequenter umzusetzen als ihrer Vorbilder.

Demokratiedefizite als Risiko

Es ist jedoch nicht allein diese Effektivität und die daraus resultierende Angst vor einer tendenziellen Machtminderung, die Argwohn im Westen hervorruft. Während in autoritär geführten Staaten Regierungen weitgehend autonom im vermeintlichen Allgemeininteresse entscheiden, würden in westlichen Demokratien unterschiedliche Gesellschaftskräfte mit jeweils eigener Agenda ihren Einfluss geltend machen. Um den erforderlichen Willensbildungsprozess zu gewährleisten, sei ein hohes Maß an Transparenz erforderlich. In Verbindung mit der Wachsamkeit der Akteure wäre somit ein Kontrollmechanismus gegeben, der einen Missbrauch von Macht vereiteln oder zumindest erschweren würde.

Demokratische Grundprinzipien wie Gewaltenteilung, individuelle Rechte und Minderheitenschutz finden sich zwar ebenfalls in den Verfassungen vieler autokratisch regierter Länder. Sie würden dort aber nicht konsequent umgesetzt. Demokratiedefizite seien neben Korruption und schwachem gesellschaftlichem Engagement nicht nur ein Problem Russlands, sondern auch in den neuen EU-Mitgliedsstaaten des mittel-ost-europäischen Raums präsent. Indem sich diese aber den EU-Bestimmungen unterwerfen, können sie durch Druck aus Brüssel „zur Räson gebracht“ werden. Erweisen sich Appelle an gemeinsame Werte als unzureichend, wird mit handfesten Drohungen operiert. Deren Grundlage bildet die hohe Abhängigkeit von den westeuropäischen Wirtschaftszentren, in die jene Länder infolge der Öffnung der nationalen Märkte und des damit einhergegangenen Zerfalls autarker ökonomischer Strukturen geraten sind.

Wenn sich auch hinter den Bedenken westlicher Demokratiewächter ein verdeckter Herrschaftsanspruch artikuliert, sind sie dennoch nicht ganz aus der Luft gegriffen. Tatsächlich haben vielerorts Völker bis in die jüngste Geschichte immens unter „schlechten Autokraten“ gelitten. Erwähnt seien die Zwangskollektivierung und die Liquidierung der Opposition unter Stalin, der „große Sprung nach vorn“ und die Kulturrevolution unter Mao Tse-tung, der Genozid unter Pol Pot sowie die Personenkulte von Ceauşescu bis zu den Staatslenkern Nord-Koreas. Obwohl niemand ernsthaft Wladimir Putin oder Xi Jingping in diese Galerie platzieren würde, gibt es keine Garantien, dass ihre Nachfolger ähnlich rational und berechenbar agieren. Es sind durchaus Zweifel angebracht, ob ein Präsident vom Schlage Donald Trumps in einem autoritären Staatswesen in Schach gehalten werden könnte.

Angstabbau durch Annäherung

Darauf ließe sich nun erwidern, dass es in der Regel die jeweiligen Völker selbst waren, die die Bürde eines ideologisierten oder eigennützigen Herrschaftsapparats zu tragen hatten. Können sich die Nachbarländer also in Sicherheit wiegen? Kai Ehlers hebt hervor, dass Russland von der Zarenzeit bis zur Gegenwart nicht durch einen Imperialismus westlichen Typs geprägt war. Während dieser auf dem Selbstverwertungs- und Expansionsdrang des Kapitals beruht, hätte Russland seinen Einfluss zum Zweck des Selbstschutzes und als Impulsgeber einer multipolaren Ordnung geltend gemacht.

Mögen dies die ursprünglichen Motive der sowjetischen Führung gewesen sein, so wurden sie nach dem zweiten Weltkrieg zu einem Revierdenken ausgeweitet. Die kulturelle und sozio-ökonomische Nähe mancher „Bruderstaaten“ zum Westen wurde schlicht ignoriert, was mehrfach zu Volksaufständen führte. Machtpolitische Kalküle hatten allerdings eine politisch-ideologische Grundlage, die mit dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ entfiel. Indem das heutige Russland eine multipolare Weltordnung anstrebt, erkennt es implizit das Recht eines jeden Staates an, sich gemäß seiner sozio-kulturellen Eigenheiten international zu orientieren.

Für westliche Realpolitiker dürfte evident sein, dass weder Sanktionen noch die Finanzierung einer westlich-gesinnten Opposition zu gewünschten Veränderungen führen. Ebenso wenig dienlich ist Russland-Bashing, zumal es Ressentiments verstärkt und die Möglichkeiten einer Einflussnahme dauerhaft erschwert. Schließlich bringen Aufrüstung und Stationierung von NATO-Verbänden keine positiven Resultate. Da sie weder für die Verteidigung benötigt werden noch einen Krieg provozieren dürften, verbleibt die US-amerikanische Rüstungsindustrie als eigentlicher Profiteur. Angesichts der erreichten militärischen Vergeltungsschlagkraft kann es sich Russland gegenwärtig sogar leisten, seine Rüstungsausgaben zu reduzieren, sodass nicht einmal ein „Kaputtrüsten“ gelingt.

Sollte es das Ziel des Westens sein, die russische Bevölkerung für die eigenen Werte zu gewinnen, dann ist zweifellos Egon Bahrs Devise vom „Wandel durch Annäherung“ das effektivste Mittel. Es würde bald erkannt werden, dass die Kluft weitaus geringer ist als aus der Distanz wahrgenommen. Besonders in größeren Städten würden aufgeschlossene und gut informierte Bürger angetroffen werden, die Interesse an politischen Debatten zeigen. In Fernseh-Talkshows könnten ausländische Gäste betrachtet werden, die westliche Sichtweisen einbringen.

Wenn auch – wie zahlreiche Umfragen belegen – die Außenpolitik Putins starken Zuspruch erhält, hagelt es bei gesellschaftlich-sozialen wie auch bei ökologischen Fragen viel Kritik. Hier könnten westliche Erfahrungen, Praktiken und Modelle durchaus von Nutzen sein. Wer den Artikel von Kai Ehlers aufmerksam gelesen hat, wird gleichwohl auf Anregungen gestoßen sein, die Russland den westlichen Demokratien geben könnte.

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