Kommunalwahlen in Russland: Naivität oder politisches Überleben?

Kommunalwahlen in Russland: Naivität oder politisches Überleben?

Am 11. September 2022 finden in Russland die ersten großen Wahlen seit der Duma-Wahl 2021 statt. Die Russen werden 14 Gouverneure, 6 Regionalparlamente und 12 Stadträte in regionalen Zentren wählen müssen. Die politisch und symbolisch wichtigsten Wahlen finden in Moskau statt, wo die Abgeordneten der Stadtbezirke gewählt werden sollen. 

„Der politische Raum in Russland hat sich seit einem Jahrzehnt kontinuierlich verschlechtert. Aber nach dem 24. Februar fanden wir uns in einer neuen Realität wieder“, sagt David Kania von der Nichtregierungsorganisation Golos (zu Deutsch „Stimme“), die bereits seit 22 Jahren landesweit Wahlfälschungen aufdeckt und voriges Jahr (einen Monat vor der Duma-Wahl) zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde. Hunderte von unabhängigen Kandidaten, insbesondere auf kommunaler Ebene, wurden bereits von den Wahlen ausgeschlossen, verhaftet und zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Dennoch fordern die meisten regierungskritischen Kräfte (einschließlich Nawalnys Team) die russischen Bürger weiterhin auf, wählen zu gehen. 

Die Frage ist, warum, wenn alle Ergebnisse so leicht zu manipulieren seien? Warum an diesem „sinnlosen Spektakel“ teilnehmen, wie viele meinen? „Man muss sich an diese Realität anpassen und nach neuen Möglichkeiten suchen“, meint Kania. „Die Gesellschaft muss sich mit sich selbst auseinandersetzen, wir müssen verstehen, wie die Wahlen während der militärischen Sonderoperation durchgeführt werden. Wir müssen uns einen Reim darauf machen und uns auf die Dumawahlen im nächsten Jahr vorbereiten. Aber im Allgemeinen ist die Stimmung pessimistisch, viele Menschen glauben nicht daran, dass sie zur Wahl gehen sollten, viele gute Kandidaten haben sich geweigert, an der Wahl teilzunehmen, weil die Risiken zu groß sind“. Golos hat eine Online-Karte der Wahlrechtsverletzungen erstellt. Bereits 625 Meldungen über Verstöße sind bei der NGO eingegangen, zum Beispiel über Fälle von Nötigung zur Stimmabgabe.

Wenn es keine Wahldemokratie gibt, gibt es auch keine Wahlen, meinen viele. Doch obwohl es von außen den Anschein hat, dass in Russland alles „mit der gleichen Farbe überzogen“ ist, ist das Land zu groß, um homogen zu sein. Der Kreml hat den Bürgern jegliche Form des Protests genommen. Also wird diese Wahl die einzige Möglichkeit des öffentlichen Protests sein, und zwar eines relativ ungefährlichen Protests. „Sicherlich glauben nur wenige Menschen, dass es eine ‚Swing-Wahl‘ geben kann, bei der die amtierende Regierung besiegt wird. Niemand glaubt, dass die Macht von innen heraus verändert werden kann. Darum geht es gar nicht – es geht darum, das wahrscheinlich einzig verbliebene, relativ sichere und legale Mittel der politischen Beteiligung zu nutzen, um zu versuchen, sich seinen Platz im politischen System zu sichern, zumindest für ein paar weitere Jahre, und diese Position so weit wie möglich zum Wohle des Volkes zu nutzen. Das heißt, es ist eine Frage des politischen Überlebens“, erklärt die Politologin Ekaterina Sсhulmann.  

Ein weiteres Argument gegen die Wahlbeteiligung: Wie kann man sich in Kriegszeiten darum kümmern, dass in einem Moskauer Park genügend Blumenbeete angelegt oder eine Haltestelle erneuert wird? Schulmann meint dazu: „Was kann man sonst tun? Wir hören auch, dass einige Rechtsradikale „das Volk“ angreifen, weil es sich nicht mobilisieren will, Geld verlangt und ein ungeheuerliches Maß an Egoismus an den Tag legt. Es ist erstaunlich, wie Misanthropen aus verschiedenen Lagern zusammenkommen. Sie brauchen sich nicht zu schämen, wenn Sie sich mit bodenständigen Dingen beschäftigen. So ist das Leben!“

Moskau wird der wichtigste politische Schauplatz dieser Kommunalwahlen sein. Nach Angaben der Nawalny-Stiftung war die Hauptstadt schon immer eine der Regionen mit den meisten Protesten. 

Dabei haben kommunale Abgeordnete nur wenig oder gar keine Macht. Doch bereits vor dem Wahlkampf wurden allein in Moskau siebzig Prozent der selbst nominierten Kandidaten ausgeschlossen. So wurde der ehemalige Moskauer Kommunalangeordnete Ilja Jaschin verhaftet, Alexej Gorinow, Abgeordneter im Moskauer Bezirk Krasnoselskij, wurde für sieben Jahre inhaftiert, nur weil er sich gegen den Krieg ausgesprochen hat. Auch gegen ihre Kollegin Elena Kotenochkina wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Und die Politikerin und ehemalige Moskauer Stadtverordnete Julia Galjamina wurde am 2. September zur „ausländischen Agentin“ erklärt. Nach Berechnungen der Zeitung Kommersant sind seit dem offiziellen Beginn des Moskauer Wahlkampfes insgesamt mehr als zwei Dutzend Abgeordnete und Wahlkampfaktivisten in ähnliche Fälle verwickelt worden.

Warum gehen die Behörden so hart gegen unabhängige Kandidaten vor? „Die Macht der Moskauer Stadtverordneten ist äußerst gering, aber diese Wahlen sind symbolisch wichtig, da sie zeigen, ob die lokalen Oppositionellen in der Stadt bleiben, gestärkt oder geschwächt werden. Seit 2021 wollen die Moskauer Behörden die Zahl der Abgeordneten in schwierigen Bezirken reduzieren. Insgesamt 1.417 Mandate (statt 1.502 vor fünf Jahren) werden in diesem Jahr in 125 Bezirken Moskaus zu vergeben sein, da die Zahl der Abgeordnetenräte reduziert wurde“, erklärt der Politologe Alexander Kynew. 

Offenbar fürchten die Machtinhaber „eine wachsende Unzufriedenheit angesichts der sozioökonomischen Probleme“. Denn je niedriger das Rating der Kreml-Partei Einiges Russland ist, desto offensichtlicher würden die Fälschungen sein. „Es ist eine Sache, 25 Prozent der Stimmen zu fälschen, aber eine andere, 50 Prozent oder sogar 75 Prozent zu fälschen“, so Kynew. 

Die Machtinhaber haben offensichtlich Angst, dass echte Oppositionelle und Menschen mit einem unabhängigen Standpunkt über systemische Parteien in die Räte auf verschiedenen Ebenen gelangen könnten. Und nutzten dafür alle möglichen Mechanismen: „Sowohl die „antiextremistischen“ Änderungen des Gesetzes 2021, die es Bürgern, die solchen Organisationen angehören, verbieten, für ein Amt zu kandidieren, als auch das neue Gesetz über die strafrechtliche Verfolgung für die „Fake News über die Streitkräfte“ (das heißt die Verfolgung von Kritik an der Sonderoperation in der Ukraine und von öffentlichen Äußerungen gegen den Krieg) werden aktiv genutzt. Seit Mai häufen sich neue Verwaltungs- und Strafverfahren gegen Moskauer Stadtverordnete, die die Möglichkeit, für eine neue Amtszeit zu kandidieren, zunichtemachen. Einige der Moskauer Stadtverordneten verließen Russland im Februar und März ganz, wie zum Beispiel. der bekannte Journalist Ilja Asar (Abgeordneter des Bezirks Chamovniki“, weiß Kynew.

Das gefährlichste Jahr für die Behörden wird jedoch das Jahr 2023 sein, in dem Wahlen „in vielen Protestregionen (dieselben Regionen haben 2013 und 2018 gewählt, als es eine Rentenreform gab), darunter die Regionen Irkutsk, Uljanowsk und Jaroslawl, das Gebiet Transbaikalien und Chakassien“ stattfinden werden. „Besonders pikant daran ist, dass die Wahlen 2023 am kurz vor der Präsidentschaftswahlen 2024 stattfinden werden. Das Regime möchte nicht, dass die Opposition «am Vorabend» der Präsidentschaftswahlen in den Regionen Erfolg hat. Wahrscheinlich werden deshalb verschiedene Szenarien diskutiert, bis hin zur Absage der Wahlen unter irgendeinem Vorwand“, erklärt Alexander Kynew und schlussfolgert: „Wenn sich die Machtinhaber ihrer Unterstützung so sicher sind, warum dann derartige Druckmaßnahmen selbst in Regionen, die für sie sicher sind?“ 

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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